Evangelische und Nationalsozialismus

Matthias Moser
Relief in der Vorhalle der evangelischen Martin-Luther-Gedächtniskirche im Berliner Stadtteil Mariendorf  mit NS-Symbolen. Viele Protestanten waren für den nationalsozialistischen Staat besonders empfänglich.
© epd-bild / Marko Priske
Relief in der Vorhalle der evangelischen Martin-Luther-Gedächtniskirche im Berliner Stadtteil Mariendorf mit NS-Symbolen. Viele Protestanten waren für den nationalsozialistischen Staat besonders empfänglich.

Sehr geehrter Herr Muchlinsky,

die Zeit des Nationalsozialismus ist mit Sicherheit eines der dunkelsten Kapitel des deutschen Protestantismus. Bekanntlich war unter den Protestanten die Zahl derjenigen, die die NSDAP wählten, höher als unter den Katholiken. Ich frage mich immer wieder: Was gab es für Gründe, dass gerade unter den Protestanten nationalistisches und antidemokratisches Denken relativ verbreitet war? Warum konnten sich viele von ihnen nicht für die Weimarer Republik begeistern?

Gibt es hierzu vielleicht tiefergehende Literatur? Vielen Dank für Ihre Auskunft.

Sehr geehrter Herr Moser,

auch wenn mir nicht bekannt ist, dass die Zahl der NSDAP-Wähler unter den Protestanten höher war als unter den Katholiken, kann ich mir doch einen Reim darauf machen. Dazu muss ich allerdings ein wenig ausholen.

Das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. von "kirchlichem und weltlichem Regiment" war in Deutschland bereits im Mittelalter ein anderes als im Rest der christlichen Welt. Die deutschen Kaiser haben schon im sogenannten Investiturstreit im 11. Jahrhundert deutlich gemacht, dass sie – anders als die Papstkirche – der Ansicht waren, die weltliche Macht werde den weltlichen Herrschern direkt von Gott verliehen. Der römischen Ansicht nach, wurde die weltliche Macht durch die Kirche (also durch das kirchliche Regiment) an das weltliche Regiment übertragen.

Während der Reformation wurde dieser Streit zugespitzt, weil sich die verschiedenen Fürstentümer gegen die Vorherrschaft Roms wandten und darin durch die reformatorische Theologie unterstützt wurden. Die Obrigkeit, welche auch immer, war im deutschen Protestantismus eine direkt von Gott gegebene. Auch wenn Luther selbst nie davon sprach, so entwickelte sich doch aus seinen Schriften die sogenannte "Zwei-Reiche-Lehre", die letztlich auch in der Bekenntnisschrift der Protestanten (der Confessio Augustana) aufgenommen wurde. Dort steht (Artikel 16): "Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment wird gelehrt, dass alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind."

Im 19. Jahrhundert kam es darüber hinaus zu einer ausgesprochen nationalistischen Rezeption Luthers. Deutschlands besondere Struktur, die durch die verschiedenen Fürstentümer und die sich daraus entwickelnden protestantischen Landeskirchen geprägt war, führte nun in der Zeit des Nationalsozialismus dazu, dass der Katholik Hitler wohl einerseits einen Staats-Kirchen-Vertrag (das sogenannte Reichskonkordat) mit Rom schloss, in dem das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Deutschen Reich geregelt wurde, andererseits wurden keine Verträge mit den verschiedenen evangelischen Landeskirchen geschlossen. Stattdessen wurde versucht, eine protestantische Reichskirche durchzusetzen. Diese im Grunde genommen neue Kirche stand der Gleichschaltung sehr offen gegenüber, weil sie sich von vornherein aus regimetreuen Geistlichen zusammensetzte.

All dies kann man als Gründe anführen, wenn man sich fragt, warum viele Protestanten für den nationalsozialistischen Staat besonders empfänglich waren.

Bitte bedenken Sie jedoch, dass ich hier die Vielzahl der Faktoren nur sehr ausschnitthaft beschreiben kann. Ich bin Ihnen darum für Ihre Frage nach weiterführender Literatur dankbar, denn die ist in der Tat notwendig, wenn man sich ein vollständiges Bild verschaffen möchte. Ich empfehle Ihnen als die Lektüre das ausgesprochen gründliche Werk von Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1, Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-194, Berlin 1977.

Herzliche Grüße,

Frank Muchlinsky

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