Wie stehen Evangelische zum Thema Heiligenverehrung?

Katrin Müller

Lieber Herr Pastor!

 

Ich bin katholisch und sehr religiös erzogen worden. Mittlerweile bin ich verheiratet und habe 3 Kinder. Mein Mann ist (auf dem Papier) evangelisch. Anfangs wollte ich ihn "umpolen". Nach 11 gemeinsamen Jahren, die aus mehreren Gründen sehr leidvoll für beide Seiten verlaufen sind, bin ich mittlerweile innerlich ein zerrissener Mensch. Ich, die ich zeitlebens kirchentreu war (wenn möglich besuche ich mit meinen Kindern - 3,5,7 - am Sonntag die Messe im Ort, fühle mich im katholischen Glauben immer weniger zuhause. Ich bin vom Leben sehr ernüchtert worden, vielleicht spielt das auch eine mehr oder minder große Rolle. Wie dem auch sei. Meine innere Haltung und religiösen Einstellungen beginnen sich immer mehr dem evangelischen Glauben anzunähern, sind ihm schon weit näher als dem katholischen. Ich habe mit den Heiligen noch nie viel anzufangen gewusst, die protzig gestalteten, unbescheidenen, überladenen Kirchen waren mir immer schon ein Dorn im Auge. In den letzten 2 Jahren ist mir dann auch Lektüre über die katholische Kirchenvergangenheit in die Hände gefallen. Wie brutal und gnadenlos die Obrigen des Klerus mit dem Kirchenvolk verfahren sind, ist mir erstmals so richtig bewusst geworden. Ich habe mich gefragt: Ist DAS DER einzig richtige Glaube??? Ist das für MICH stimmig? Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich frage mich sonntags auch immer öfter, was ich hier eigentlich tue. Die Kinder muss ich in der Kirchenbank beinahe festkleben, sie wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, in die Messe zu gehen: Langweilig und "Scheiß Kirche!" kann ich mir anhören. Die Messe an sich ist ja auch wirklich ein langweiliger Ablauf von Ritualen, (bei uns zumindest) ohne jede Essenz und ohne, dass man die Gegenwart Gottes spüren kann. Will man dem Gesagten des Pfarrers folgen, muss man sich ohne Ende konzentrieren, um aus seinem gebrochenen Deutsch das Wesentliche herauszuholen. Vielleicht übertreibe ich jetzt etwas, aber es versteckt sich hinter meinen Worten eine gewaltige Portion Wut. Ich wäre so gerne in einer Gemeinschaft, die den Glauben lebt und die Bibel zeitgemäß umsetzt. Unserer katholischen Kirche mit Kirchenvätern, die z. T. Alkoholiker, pädophil, maßlos, herrschsüchtig, weltfremd, herzlos (Umgang mit Geschiedenen, Homosexuellen...) sind, kann ich vom Herzen her nicht mehr angehören.

 

Was mich dennoch beschäftigt ist Folgendes: Es gibt Wallfahrtsorte (Medjugorje, Lourdes,...) an denen besondere Leute gelebt haben, denen auch wundersame Dinge widerfahren sind. Nach wie vor pilgern tausende Gläubige jedes Jahr zu diesen Orten, tanken dort Kraft und finden innere Ruhe und stärken sich im Glauben. Sogar nicht praktizierende Christen lassen diese Orte nicht kalt. Es sind dies tatsächlich besondere Orte, dort herrscht eine besondere Atmosphäre. Manchmal geschehen dort auch heute noch Wunder. Wie sehen evangelische Gläubige diese Orte. Sind sie auch für Evangelische bedeutsam? Was bedeuten die katholischen Heiligen für Sie persönlich/ für die Evangelischen? Wenn ich etwas verloren habe, habe ich schon des Öfteren den Hl. Antonius angerufen; meine Mutter hat uns das immer eingebläut. Ich habe die Dinge meistens auch sehr rasch wieder gefunden. Trotzdem: Die Heiligen sind in der Bibel nicht erwähnt, oder? Für die Evangelischen haben sie doch eigentlich keine Bedeutung? Ich denke mir: Es gab und gibt auch heute immer wieder ganz wunderbare Menschen, Heilige...? Kann es nicht vielleicht auch sein, dass es immer diese "besonderen" Menschen gab und auch geben wird und, ob wir Menschen sie nun für heilig erklären oder nicht, sie vom Himmel aus ohnehin auf irgendeine Weise wirken? Ist des unbedingt von Nöten, diese Leute posthum so zu verehren, damit sie wirken? Will Gott dies unbedingt? Wenn er es aber nicht wollte, warum lässt er sie dann doch wirken? Ich habe auch schon Novenen gebetet. Dabei werden auch Heilige angerufen. Es funktioniert. Das verwirrt mich sehr...

 

Ich würde mich sehr über eine Antwort Ihrerseits freuen und verbleibe mit lieben Grüßen!

Katrin Müller (Österreich)

Liebe Frau Müller,

 

Die evangelische Kirche hat die Heiligenverehrung vor allem aus dem Grunde abgelehnt, weil sie mit der Vorstellung nichts anfangen kann, dass einige Menschen durch ihre Taten näher an Gott eher sein dürfen als andere. Also die Idee, dass diejenigen, die von der Kirche heiliggesprochen werden, bereits im Himmel sein dürfen, während die anderen Menschen noch auf ihre Auferstehung warten müssen. Darum bitten wir auch nicht Heilige darum, vor Gott für uns Fürsprache zu halten, denn dazu müssten wir das ja glauben, dass sie vor Gott treten und sich bei ihm für uns einsetzen können.

 

Allerdings glauben auch wir, dass die Heiligen (und viele von ihnen sind ja gar nicht nur "katholisch", sondern haben lange vor der Reformation gelebt) in der Tat besondere Menschen sind, die uns Vorbilder sein können und uns in vielen Bereichen unseres Lebens auf diese Weise beiseite stehen. Was Ihre Frage nach den heiligen orten angeht, so möchte ich Ihnen gern meine persönliche Meinung (denn nach der fragen Sie ja auch) dazu sagen. An Wallfahrtsorten herrscht meines Erachtens wirklich eine besondere Atmosphäre, die ich als heilig bezeichnen würde. Allerdings meine ich, dass dies nicht dadurch geschieht, dass hier einmal Heilige gelebt haben, sondern dadurch dass Tausende und Millionen Menschen dort hin pilgern. Nach evangelischem Verständnis – wie auch nach altkirchlichem – sind alle getauften Christinnen und Christen die "Gemeinschaft der Heiligen". Wenn so viele Menschen mit ihrem Glauben, dieselben Wege gehen, sich an denselben Orten versammeln, dann wird dieser Ort durch ihre Präsenz bedeutsam und heilig. Und das ist zu spüren, sei es dadurch, dass Menschen gesund werden oder sich einfach besser fühlen. Es sind die Menschen, es sind die "Heiligen", die zu den Wallfahrtsorten pilgern, die die Orte heilig machen.

 

Nun grüße ich Sie herzlich und frage mich natürlich, ob Ihnen meine Antwort soweit etwas sagt, dass Sie immer noch über einen Wechsel zum Protestantismus nachdenken mögen. Wie dem auch sei. Ich verbleibe

Ihr Frank Muchlinsky