Das Kommen des Menschensohnes

Lars

Lieber Herr Muchlinsky,

zunächst bin ich über die Aussage Jesu in Mt 10,23 gegenüber seinen Jüngern gestolpert: "Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt."

Nun könnte man dies auch auf etwas anderes beziehen, als die Wiederkehr am Ende der Welt. Auf der Suche nach anderen Stellen komme ich aber immer auf ähnliche Aussagen, die eigentlich für mich in Summe ein recht klares Bild abgeben: "Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie den Menschensohn kommen sehen in seinem Reich" (Mt 16,28; auch bei Mk und Lk). Und in Mk 13,30 verkündet Jesus auch mit Nachdruck: "Wahrlich ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht." Auch wenn im Anschluss gesagt wird "Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater." so bleibt für mich die Vorstellung, dass Jesus davon ausgegangen ist, dass er noch zu Lebzeiten einiger Zeitgenossen wiederkehren wird.

Hat sich Jesus in diesem Punkt geirrt oder haben sich Gottes Pläne geändert? Gibt es für diese Aussagen eine andere Erklärung oder Auflösung? Mein persönlicher Erklärungsversuch, den ich eher als einen Irrtum Jesu akzeptieren könnte, wäre, dass diese grobe zeitliche Einordnung von den Evangelisten und den ersten Missionaren (so hat auch Paulus eine Rückkehr Jesu zu Lebzeiten erwartet) hinzugefügt wurde, um den "Durchhaltewillen" der seinerzeit massiv verfolgten Christen zu stärken und ihnen eine absehbare Perspektive zu geben. Vielen Dank im Voraus für ihre Bemühungen.

Lieber Lars,

 

Was Sie da beschreiben, haben auch schon die ersten Christinnen und Christen durchgemacht. Am Anfang der Geschichte des Christentums steht eine große Enttäuschung. Man war sich sicher, dass es mit der Welt, wie wir sie kennen, bald zu Ende sein würde und dass Jesus Christus bald aus dem Himmel, in den er ausgefahren war, wiederkehren würde. "Bald" bedeutete eben dies: Vielleicht nicht heute oder morgen, aber bestimmt, bevor noch irgendjemand, der sich zu Christus bekennt, stirbt.

Im Neuen Testament finden sich viele Zeugnisse dieser "Naherwartung", und Sie haben ja auch einige zusammengetragen. Man kann darüber streiten, ob die Worte Jesu, die Sie zitieren, tatsächlich von Jesus gesprochen wurden. Recht sicher können wir aber sagen, dass Jesus durchaus auch ein Prediger der nahen Heilszeit war. Seine ständige Rede von der Königsherrschaft Gottes macht deutlich, dass auch Jesus das nahe Ende der vorfindlichen Welt erwartete. Insofern kann man tatsächlich sagen, dass er sich "geirrt" hat.

Nach Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu haben die Christinnen und Christen also dringend darauf gewartet, dass sich bald erfüllt, wovon schon Jesus redete: Dass der Menschensohn (den man mittlerweile natürlich mit Jesus identifizierte) kommen würde, um Gottes Reich anbrechen zu lassen. Doch es geschah nicht. Die ersten Leute starben, und wer an dem Glauben an Jesus Christus festhalten wollte, sah sich logischer weise in Erklärungsnot – ein wenig, wie Sie sich gerade fühlen, wo Sie diese Passagen studieren.

 

Besonders wichtig wurde natürlich die Frage nach den Gestorbenen. Was ist mit denen, die getauft waren und dennoch starben, bevor Christus zurückkehrte. Paulus nimmt sich dieses Thema im 1. Brief an die Thessalonicher an:

Wir wollen euch aber, liebe Brüder, nicht im Ungewissen lassen über die, die entschlafen sind, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben.
Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen.
Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind.
Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen.
Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit.
So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.
(1.Thess 4,13-18)

Wie Sie erkennen, hält Paulus durchaus noch an der Naherwartung fest, obwohl bereits einige Brüder und Schwestern gestorben sind. Er vollzieht aber bereits einen wichtigen Schritt, den wir bis heute übernommen haben: Wenn Christus kommt, werden zuerst die Toten auferstehen, wie Christus auferstanden ist, dann wird Christus sich um die zu dem Zeitpunkt Lebenden kümmern. Durch diesen Schritt wird die Zeit bis zur Wiederkehr Jesu sozusagen "dehnbar". Es muss nicht mehr in dieser Generation sein.

 

Ein weiterer Erklärungsversuch ist die Offenbarung des Johannes. Der Seher Johannes, von dem dieses Werk ist, lebte in der Zeit schlimmer Christenverfolgung durch die Römer. Sein gesamtes Buch versucht den Christinnen und Christen zu erklären, dass ihr Leiden nichts anderes ist als das notwendige Übel, bevor das Reich Gottes endgültig hereinbricht (natürlich durch das Kommen Jesu Christi). All die Verfolgung, all die Tode sind für den Seher nicht etwa Beweise, dass man sich geirrt hat, sondern dafür, dass man bislang lediglich falsch interpretiert hat. Die Welt muss "reif" werden für die Widerkehr Jesu. Und die Qualen, die die Christinnen und Christen erleiden, sind darum wie die Schmerzen einer gebärenden Frau – furchtbar aber nötig.

Diesen Weg ist das Christentum immer weiter gegangen: Man hat die überlieferten Worte stets neu interpretiert. Und weil die Menge der aufgeschrieben Worte wuchs, wurden auch die neuen Worte von kommenden Generationen ausgelegt. Was blieb, sind die Hoffnung und der Glaube, dass Jesus Christus eines Tages wiederkommen wird, wie es auch im apostolischen Glaubensbekenntnis formuliert ist. "Ich glaube … an Jesus Christus … aufgefahren in den Himmel. Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten." Diese Hoffnung ist allerdings – das will ich gerne zugeben – eine der schwächeren in unserer Zeit geworden. Unsere Hoffnungen sind eher persönlicher und nicht mehr so universeller Natur. Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod fällt uns anscheinend leichter als die Hoffnung auf die Wiederkehr Christi, die mit dieser Welt ein Ende machen wird. Vielleicht liegt es auch daran, dass diese Vorstellung vielen Menschen Angst macht, denn sie ist ja mit dem "Endgericht" verknüpft.

Es bleibt aber die Tatsache bestehen, dass diese Hoffnung ein Teil unseres Glaubens bleibt, so schwach sie bei den Einzelnen Gläubigen auch ausgeprägt sein mag. Die Bibel endet mit den Worten: "Amen, ja, komm, Herr Jesus! Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!" (Offb 22,20-21)

 

Mit herzlichem Gruß!

Frank Muchlinsky