Gott lässt als Strafe alle Kinder verhungern?

Lucy

Guten Abend,
momentan lese ich Jeremia und an einer Stelle in diesem Buch, die ich gestern gelesen habe, habe ich große Probleme.

 

Und zwar mit Jeremia 11,22-23a:
"Ich werde sie dafür strafen! Ihre jungen Männer werden im Krieg fallen und die Kinder verhungern. Keiner von ihnen wird überleben."

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Gott aus Zorn alle Kinder verhungern lässt. Das passt nicht dazu, was Jesus gelebt hat: "Lasst die Kinder zu mir kommen!" Es passt nicht zu Liebe und Barmherzigkeit. Können Kinder wirklich schon uneingeschränkt verantwortlich gemacht werden für ihre Taten? Sie sind doch noch nicht richtig schuldfähig, auch vor unserer Rechtsprechung nicht - mit gutem Grund!

Ich verstehe einfach nicht, wie das gemeint ist. Hat Gott dann wirklich alle Kinder des Volkes Israel verhungern lassen?

Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Die ganze Sache beschäftigt mich ziemlich.

 

Viele Grüße,
Luise Heitkamp

Liebe Frau Heitkamp,

ich habe mir erlaubt, Ihre Frage an Frau Prof. Köhlmoos von der Goethe-Universität in Frankfurt weiterzugeben. Sie ist Spezialistin für das Alte Testament und war so freundlich, Ihre Frage zu beantworten.

Herzlich

Frank Muchlinsky

 

Sehr geehrte Frau Heitkamp,

 

ich verstehe, dass diese Stelle sie beschäftigt, denn solche Worte bilden für unser Gottesverständnis häufig eine große Anfechtung.

Die Übersetzung, die Sie zitieren, ist aus der „Hoffnung für alle“-Bibel übernommen. Diese strebt ein Höchstmaß an unmittelbarer Verständlichkeit an (was ein gutes Ziel ist), stellt die genaue Übereinstimmung mit dem Ausgangstext aber eher in die zweite Reihe.

Wenn man Jer 11,22 in den anderen üblichen Übersetzungen liest, stellt man fest, dass der Vers dort etwas anders klingt:

  • Lutherbibel 2017 (keine Veränderung zur 1984): 22 darum, so spricht der Herr Zebaoth: Siehe, ich will sie heimsuchen. Ihre junge Mannschaft soll mit dem Schwert getötet werden, und ihre Söhne und Töchter sollen vor Hunger sterben, 23 dass keiner von ihnen übrig bleibt;
  • Zürcher Bibel: 22 Darum, so spricht der HERR der Heerscharen: Sieh, ich suche sie heim: Die jungen Männer werden durch das Schwert sterben, ihre Söhne und ihre Töchter werden sterben vor Hunger. 23 Und von ihnen wird kein Rest bleiben
  • Gute Nachricht: Doch der HERR, der Herrscher der Welt, antwortet: »Ich werde die Leute von Anatot zur Rechenschaft ziehen! Ihre jungen Männer werden durch das Schwert umkommen und ihre Kinder durch Hunger. 23 Das Volk dieser Stadt geht restlos unter,
  • Einheitsübersetzung: 22 Darum - so spricht der Herr der Heere: Seht, ich werde sie zur Rechenschaft ziehen. Die jungen Männer sterben durchs Schwert, ihre Söhne und Töchter sterben vor Hunger. 23 So wird den Leuten von Anatot kein Rest mehr bleiben,
  • Elberfelder: 22 darum, so spricht der HERR der Heerscharen: Siehe, ich suche sie heim. Die jungen Männer werden durchs Schwert sterben, ihre Söhne und ihre Töchter werden vor Hunger sterben, 23 und kein Rest wird von ihnen bleiben

 

Sie sehen, in den meisten Übersetzungen ist erstens von „heimsuchen“ die Rede statt von „strafen“, zweitens heißt es „Söhne und Töchter“ statt „Kinder“, drittens heißt es „keiner bleibt übrig“.  Ich habe die Stelle im hebräischen Text nachgeschlagen und festgestellt, dass die anderen Übersetzungen den hebräischen Sinn tatsächlich etwas besser treffen. Das Verb paqad sollte man auf jeden Fall mit „heimsuchen“, besser noch: „Zur Rechenschaft ziehen“ übersetzen. Außerdem steht im hebräischen Text wirklich „Söhne und Töchter“, d.h. „Nachkommenschaft“, nicht kleine Menschen. Und drittens schließlich heißt es wirklich eher „keiner bleibt übrig“.

 

Liest man Jer 11,22-23a in den anderen Übersetzungen, bleibt es immer noch ein reichlich harter Text, er ruft aber möglicherweise schon andere Reaktionen hervor als „Hoffnung für Alle“. Daraus lässt sich schon einmal eine Hilfestellung für Ihr Problem ableiten (mit dem Sie nicht alleine sind!): Wenn Sie eine Bibelstelle irritiert, schauen Sie noch einmal in eine andere Übersetzung. (Luther, Zürcher, Gute Nachricht, Einheitsübsetzung finden Sie auf: www.die-bibel.de; Elberfelder unter: www.bibleserver.de. Dabei gilt: je mehr Übersetzungen in einer Wiedergabe übereinstimmen, umso dichter sind sie am hebräischen (im Neuen Testament: griechischen) Ausgangstext.

 

Außerdem sagt Jer 11,23 als ganzer (auch in Hoffnung für Alle), dass dieses Unheil nicht über ganz Israel kommen wird, sondern über die Leute von Anatot (23 Keiner von ihnen wird überleben. Wenn die Zeit gekommen ist, bringe ich Unheil über die Leute von Anatot." Ihre Frage "Hat Gott dann wirklich alle Kinder des Volkes Israel verhungern lassen?" ist insofern bereits aus dem Text beantwortet: Nein, denn die Ankündigung richtet sich gegen die Bewohner der Stadt Anatot. Außerdem wird im ganzen Buch Jeremia nicht berichtet, ob und wie Gott diese spezielle Ankündigung ausgeführt hat.

Somit ergibt sich eine weitere Hilfestellung für Ihr Problem: Lesen Sie möglichst immer den näheren Kontext mit.

 

Trotzdem bleibt der Abschnitt Jer 11,18-23 ein harter Brocken. Jeremia beklagt sich hier bei Gott darüber, dass seine Nachbarn ihm wegen seiner Unheilsbotschaft nach dem Leben trachten. Er bittet Gott darum, seine Verfolger dem Recht angemessen zur Rechenschaft zu ziehen. Gott antwortet, dass er das tun wird. Die zugrundeliegende Rechtskonstruktion ist diese: Die Leute der Stadt Anatot vergreifen sich an dem, der als Prophet unter Gottes besonderem Schutz steht, also an Jeremia. Gottes kündigt an, dass er ebenfalls diejenigen heimsuchen wird, die unter dem Schutz der Männer von Anatot stehen, nämlich deren Nachkommenschaft. Diese „Auge-um-Auge-Logik“ ist für uns tatsächlich schwer zu verstehen.

Mit Jer 11 beginnt ein langer Abschnitt im Buch Jeremia, in dem das Schicksal Israels und Jeremias persönliches Schicksal in Dialogen zwischen Jeremia und Gott diskutiert werden (Jer 11-20). In welcher Situation sich diese Dialoge abspielen, ist nicht klar erkennbar. Es wird aber deutlich, dass man den ganzen Abschnitt als großen Zusammenhang lesen muss, bei dem Jeremia und Gott das für und wider des bevorstehenden Gerichts miteinander erwägen.

Eine hervorragende und gut verständliche Auslegung dazu finden Sie hier.

Das heißt also für Ihr spezielles Problem: Lesen Sie auch den größeren Kontext mit.

 

Im ganzen Jeremiabuch geht es darum, dass Gottes Geduld mit Israel erschöpft ist. Obwohl die Israeliten eigentlich genau wissen, was sie tun sollten, tun sie es doch nicht. Auch der Ruf Jeremias zur Umkehr fruchtet nicht. In der Perspektive der Geschichte Israels hat das Volk Israel immer eine fatale Neigung gezeigt, die Heilsereignisse (Herausführung aus Ägypten, Offenbarung am Sinai, Landnahme, Bewahrungen in der Richterzeit, David, Salomo, Hiskia) zu vergessen und sich anderen Gottheiten und den eigenen Verdiensten anzuvertrauen. Gott betrachtet das als Verrat, den er nicht ewig vergeben wird. Vielmehr staut sich über Jahrhunderte hinweg Schuld auf, die irgendwann so groß ist, dass sie nicht mehr vergeben werden kann. Israel  muss endlich die Verantwortung übernehmen, die Gott ihm zutraut. An diesem Punkt befinden sich Jeremia und Gott miteinander. Gerade in Jer 11-20 ist ein echtes Ringen darum erkennbar, ob das Gericht angemessen und sinnvoll ist. Jeremia antwortet mit einem „ja“; sein Zeitgenosse Hesekiel sieht das anderes (Hes 18).

 

Mit herzlichem Gruß,

Melanie Köhlmoos

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