Warum nennen wir die Bibel "Heilige Schrift"?

Susanne
offene beleuchtete Bibel deren Seiten zu schweben scheinen
© Timothy Eberly/Unsplash

Wir nennen die Bibel auch "Heilige Schrift."

Aber manchmal frage ich mich, ob dies richtig ist? So manchen Text finde ich gar nicht heilig. Wenn ich 5. Mose 20,1-20 (Kriegsgesetze), oder Markus 6,14-29 (Das Ende Johannes des Täufers), oder in den Apokryphen bei 2. Makkabäer 7,1-42 lese, habe ich nicht das Gefühl in der "Heiligen Schrift" zu lesen. Ich bekomme "Gänsehaut" und "ein kalter Schauder" läuft mir den Rücken hinunter, wenn ich diese Texte lese.

Ist ein Buch, in dem so etwas drin steht, eine "Heilige Schrift?"

Liebe Susanne,

ich habe Ihre Frage Prof. Dr. Melanie Köhlmoos vorgelegt. Sie ist Professorin für Altes Testament an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und hat vor kurzer Zeit ein Buch veröffentlicht, in dem sie unter anderem Ihre Frage behandelt. (M. Köhlmoos, Altes Testament. 2011) Sie war so freundlich, Ihre Frage zu beantworten.

Herzliche Grüße, Frank Muchlinsky

Liebe Susanne,

Die „Heiligkeit“ der Bibel hat in Theologie und Kirche nichts mit ihrer Moral oder ihrer Gewalthaltigkeit zu tun, sondern mit ihrem religiösen „Wert“. Im Judentum, im Christentum und im Islam gilt, dass alle Aussagen über Gott, den Glauben und das Handeln der Gläubigen zuerst und hauptsächlich mit der (jeweiligen) Heiligen Schrift begründet werden müssen. Außerhalb der Schrift gibt es keinen Zugang zu Gott und seinem Willen (das heißt nicht, dass man keine religiösen Erfahrungen machen kann, aber ob einem da wirklich der jüdische/christliche/muslimische Gott begegnet ist, erfährt man nur, wenn man seine Erfahrung mit der Schrift vergleicht). Im Christentum nennt man diese Haltung „Schriftprinzip“. In einer der maßgeblichen evangelischen Lehrtexte, der Konkordienformel von 1577 heißt das so:

„Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einzige Regel und Richtschnur, nach der in gleicher Weise alle Lehren und Lehrer gerichtet und beurteilt werden sollen, alleine die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind … Andere Schriften aber alter und neuer Lehrer, welchen Namen sie auch immer haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleichgestellt, sondern ihr alle miteinander unterworfen werden, und sie sollen als etwas anderes nicht angenommen werden, als Zeugen dafür, in welcher Weise und an welchen Orten nach der Zeit der Apostel jene Lehre der Propheten und Apostel bewahrt wurde.“ (Formula Concordiae Epitome, Art 1. zit. nach: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 31991, 871)

Das heißt also kurzgefasst: Alle Glaubensaussagen sind allein nach dem Maßstab zu beurteilen, ob sie der Schrift entsprechen. In der römisch-katholischen Kirche wird das etwas anders gehandhabt. Hier steht neben dem Schriftprinzip das Traditionsprinzip: Das kirchliche Lehramt (Pfarrer, Bischöfe, Papst) bekräftigt die richtige Auslegung der Schrift.

Nun enthält die Bibel 66 einzelne Bücher (ohne Apokryphen) mit höchst unterschiedlichen Aussagen. Nicht nur, dass sie unseren heutigen Vorstellungen häufig nicht entsprechen, sondern sie widersprechen sich auch untereinander. Um bei Ihren Beispielen zu bleiben: In 5. Mose 20 werden Anweisungen für die Kriegführung gegeben, die uns tatsächlich das Gruseln lehren. Aber beim Propheten Jesaja (2,1-4) steht eben auch:

Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen,
und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

Die Kunst der Bibelauslegung besteht darin, diese unterschiedlichen Aussagen vernünftig zu interpretieren. Da wir heute davon überzeugt sind, dass Gott Frieden will und keine Gewalt, räumen wir dem Propheten Jesaja oder der Aussage Jesu (Mt 5,44-45) „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ eine größere Wichtigkeit ein als z.B. 5. Mose 20. Biblische Rechtfertigungen von Gewalt (im Namen Gottes) werden im Christentum der Bitte der Vaterunsers „Und vergib uns unsere Schuld“ untergeordnet, im Judentum der Stelle 5. Mose 32,35 („Mein ist die Rache, spricht der HERR, ich will vergelten.“)

Viele der unschönen und unbequemen Bibelstellen hängen damit zusammen, dass die Bibel eben auch historische Zeugnisse aus sehr alter Zeit enthält, als vieles noch anders zuging als heute. Das Ende des Täufers wird z.B. ja nicht erzählt, damit man genauso handelt, sondern als Beispiel dafür, wie schrecklich es in der Welt zugeht.

(Übrigens: 5. Mose 20 ist insofern schon bemerkenswert, als im Falle eines Krieges alle diejenigen vom Kriegsdienst ausgenommen wurden, die gerade Häuser gebaut, Gärten gepflanzt oder geheiratet haben. Für die damalige Zeit war das schon ein echter Fortschritt…)

Kurz: Christentum und Judentum nennen die Bibel heilig, weil sie unter veränderten Umständen aktuell geblieben ist. Das bedeutet, dass man immer wieder neu den überzeitlichen Sinn der Schrift in ihrer zeitlich bedingten Ursprungssituation gesucht hat. Dies in aller Kürze. Wenn Sie weiterlesen wollen, habe ich noch einen guten Buchtipp für Sie: Christoph Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, München, Beck, 2. Auflage 2003. Das Büchlein hat 100 Seiten, liest sich sehr gut und kostet nicht einmal zehn Euro. Hier können Sie einen Blick auf die ersten 29 Seiten werfen.

Mit freundlichen Grüßen

Melanie Köhlmoos

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