Lieber Bernd,
Ihre Frage kommt zur rechten Zeit. Maria, der Mutter Jesu, ist der Vierte Adventssonntag gewidmet. Jesu Mutter steht - kurz vor Weihnachten - jährlich im Kalender des Kirchenjahres. Gefeiert wird der Lobgesang der Maria, den sie anstimmt, weil Gott sich der menschlichen Niedrigkeit erbarmt und die Armen aus ihrer Not erhöht. Maria wird natürlich auch in der evangelischen Kirche verehrt, aber sie wird dort nicht angebetet.
Als ich sehr junger Pastor war und die Kirchenmusik sich auf die Weihnachtsfeiertage vorbereitete, kam jemand zu mir und fragte mit empörter Stimme: "Die wollen am Heiligabend das "Ave Maria" singen, das geht doch überhaupt nicht. Oder?" Ich sollte mich dann ebenfalls empören, evangelische Position beziehen und diesen Gesang verbieten. Inhaltlich übrigens zur Recht: Das Gebet, das mit den Worten "Ave Maria", also "Gegrüßet seist du, Maria" beginnt, widerstrebt jeder evangelischen Einsicht. Denn: Wir beten zu Gott, wir beten nicht zu Heiligen. Doch fest steht auch, dass in dieser Formel das Wort des Engels zitiert wird, der beginnt seine Verheißung der Geburt Jesu mit dieser Anrede: "Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!" Das sagte mir auch unser Kirchenmusiker. Ich wies auf die Gebetsformulierungen, die sich direkt an Maria wenden, hin. Der Kirchenmusiker wies seinerseits darauf hin, dass eine junge Frau aus dem Chor das "Ave Maria" am Heiligabend solistisch vortragen will. Die sei hoch motiviert und würde das auch auf hohen Niveau singen können. Der Chor sei übrigens begeistert von der Idee. Sie sang am Heiligabend also das "Ave Maria", der Chor rahmte den Gesang. Es gab weder an diesem Heiligabend noch später Protest gegen das "Ave Maria". Im Gegenteil, es wurde als richtig empfunden und es wurde zu einer Tradition.
So geht eben Weihnachten. Die Stimmung der großen Gemeinde, die sich am Heiligabend in unserer Kirche versammelt und die protestantische Richtigkeit passen manchmal nicht so richtig zusammen. Das wiederholte sich dann bei zahlreichen Hochzeiten und geht bis heute: Das "Ave Maria" bringt in Menschen und in deren Seelen eine Seite zum Klingen, die diesen Festen eine noch höhere Bedeutung verleiht. Und ich habe - zum Glück schon als junger Pastor - gelernt, dass es kulturelle Überlieferungen gibt, die theologische Richtigkeiten und strikte theologische Einsichten einfach frech überspringen. Gerade Weihnachten ist ja vieles möglich - was streng theologisch gesehen - grenzwertig ist. Ich denke an den Kampf, den es brauchte "Stille Nacht" singen zu dürfen.
Ich antworte Ihnen also: "Wir dürfen das Ave Maria singen!"
Was aber die Landeskirche, in der Sie leben, erlaubt oder explizit verbietet, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich gehe aber davon aus, dass es - schon aus ökumenischer Verbundenheit mit der römisch-katholischen Schwesterkirche und mit Rücksicht auf unser kulturelles Erbe - kein Verbot gibt.
Der Text des "Ave Maria" wurde übrigens dem Rosenkranzgebet entnommen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Wert dieser römisch-katholischen Gebetsfrömmigkeit auch in der evangelischen Kirche neu entdeckt. Das Wiederholen der immer selben Gebete führt zu einer meditativen Vertiefung, die den persönlichen Glaube stärkt. Die evangelische Michaelsbruderschaft hat das "Ave Maria" zu einem Christusgebet umgedichtet. Es heißt in dem Gebet: "Wir beten Dich an, Herr Jesus Christus, und preisen Dich, denn durch Dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst." Und statt vom Rosenkranz ist nun die Rede von dem "Christus-Rosenkranz".
Das hat eine Folge: Viele Frauen finden sich in einer Art Marienfrömmigkeit wieder, sie befassen sich mit Maria, Elisabeth, Ruth, Sahra und den viel zu wenigen Frauen, von denen wir in der Bibel etwas erfahren, die leider auch noch heute häufig übersehen werden. Ich, der ich gerne mit der Theologie des 20. Jahrhunderts die Gegenwart betrachte, bleibe auch am vierten Adventssonntag immer auch noch der Lernende.
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Adventszeit, Ihr Henning Kiene