Konstruktivismus und Glaube an Gott

Richard

Liebes evangelisch.de-Fragen-Team, ich beschäftige mich derzeit mit pädagogischem Hintergrund im Kontext eines Pädagogikstudiums mit dem Konstruktivismus. Dabei lese ich auch philosophisch-konstruktivistische Texte und kann mich gut mit dieser epistemologischen Richtung anfreunden. Ich würde sogar sagen, dass er mir so plausibel erscheint, dass ich mein Weltbild mit diesem in Einklang bringen kann. Inwiefern sehen Sie es als möglich, den Konstruktivismus mit dem Glauben an den biblischen Gott bzw. an Jesus in Einklang zu bringen? Mit den besten Grüßen, Richard

Lieber Richard, 

Sie machen es mir schwer, weil Sie - so klingt Ihre Frage für mich - davon ausgehen, dass sich der biblische Gott und die Inhalte des Evangeliums erkenntnistheoretischer Betrachtung entziehen. Der Konstruktivismus fragt: "Wie kommen wir zur Erkenntnis?" Der  Glaube an den biblischen Gott hält, so denkt man, dagegen: "Gottes Offenbarung ist durch menschliche Erkenntnis nicht zu erschließen."  Das liegt an Gott, der sich von sich aus den Menschen in einer Feuersäule (2. Mose/Exodus 13,22), im Säuseln des Windes (1. Könige 19,11-12) oder durch seine Gebote (2. Mose/Exodus 20,2-17) direkt und eindeutig offenbart. Wo Gott spricht - so liegt es nahe - braucht es keine Erkenntnistheorie. Also könnte man sagen: Bei Gott wird alles Erkennen schon mit der Offenbarung mitgegeben, mehr braucht der Glaube nicht. "Das ist so!" sagte man früher und erreicht damit heute wenig. 

Anders der Konstruktivismus, der geht davon aus, dass Menschen ihre eigene Realität durch ihre persönliche Erfahrungen erst erschaffen.  Realität wird also zur Interpretation, Gott, so wird befürchtet, könnte beliebig werden. Trotzdem hat der Konstruktivismus in der Religionspädagogik zu einer Wende geführt. Standen die unveränderlichen Inhalte des Glaubens immer im Vordergrund und wurden die Lernenden von den Lehrenden zu diesen Inhalten hingeführt, so treten jetzt die Lernenden, deren Sinneseindrücke, auch deren Vorverständnis in den Vordergrund. Erkennen wird nun zum Prozess. Glauben und die persönliche Position zu Gottes Offenbarung, sind, denkt man konstruktivistisch, nicht mehr eine objektive Realität, sondern christlicher Glaube entwickelt sich parallel mit den Erfahrungen, die jemand mit der Offenbarung Gottes macht. Offenbarung ruft also die Verständnisfrage wach und der Verstand befragt wiederum die Offenbarung. Der persönliche Glaube nimmt je nach der individuellen Lebenssituation und in jeder Lebensphase eine neue Gestalt an. Ich kann mir vorstellen, dass dem Apostel Paulus so ein Gedanke schon im 1. Korintherbrief vor Augen stand: "Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht." (1. Kor 13,11-12a) 

Man kann das an dem Osterfest, das wir gerade gefeiert haben, illustrieren. Kleine Kinder glauben anders an den auferstanden Christus, als wir Erwachsene. Sie sehen Bilder in Kinderbibeln und Kirchen und hören die Geschichten vom leeren Grab und nehmen das - manchmal nur staunend - als gegeben hin. Kinder spüren aber auch schon, was sie als Erwachsene zunehmend erleben werden: Der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi führt an die Grenze des Verstehbaren heran, bleibt ein "dunkles Bild". Wer an dieser Grenze weiter fragt, sucht häufig nach persönlichen Erfahrungen, trifft vermutlich auf seine Hoffnung, die dann doch stärker ist als die Furcht vor etwas Ungewissem und spürt der eigenen Sehnsucht nach, die den Lebenshorizont über das Verstehbare hinaus weitet. 

Es gibt zahlreiche Erfahrungen, die mich persönlich an Ostern heranführen. Ich denke an einst nahe Menschen, die schon lange nicht mehr leben, deren Nähe trotzdem im Leben bleibt. An solchen Erfahrungen kann ein österlicher Glaube heranreifen und sich immer weiter entfalten. Ähnlich - nur um einiges konkreter - ist es in der Bibel: Durch die Begegnungen mit dem lebenden Jesus stellte sich der Glaube der Jüngerinnen und Jünger schrittweise ein um sich dann zu festigen. (siehe z.B.: Lukas 24,13-33)

Man kann solchen Glauben für ein subjektives Konstrukt halten. Aber: Die Erkenntnisse, die gewonnen werden und die individuelle Wahrnehmung führen unweigerlich auf die Offenbarung des auferstandenen Jesus Christus hin. Das Wissen, das mit dem biblischen Gott und seiner Offenbarung verbunden ist, kommt in den Blick. Denn jeder kritische Versuch christlichen Glauben zu konstruieren, muss mit einer Erfahrung mit Gott rechnen, auf den sich die Erfahrung und das Nachdenken hin ausrichtet. 

Ich hoffe, dass Sie sich mit dem Konstruktivismus weiter befassen und der Theologie treu bleiben und ich Ihnen etwas helfen konnte. Ihr Henning Kiene 

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