Sehr geehrter Herr Muchlinsky,
zwei Fragen zur christlichen Lehre beschäftigen mich. Vielleicht können Sie mir helfen, die Fragen zu klären.
In der Bibel steht, Jesus habe die Sünden der Welt hinweggenommen (Joh 1,29) und die Menschen seien nach Jesu Tod keine Sünder mehr (Röm 5,8). Wie ist das mit der Tatsache vereinbar, dass wir doch immer noch sündigen?
Auch frage ich mich, warum Jesus nicht direkt nach dem Sündenfall auf die Welt gekommen ist, um Gott und die Menschheit miteinander zu versöhnen. Heißt das, salopp formuliert, die Versöhnung wäre auch ohne den Kreuzestod möglich gewesen aber Gott hat über die Jahrtausende einfach die Geduld mit der Menschheit verloren und seinen Sohn geschickt?
Vielen Dank im Voraus für die Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
Lukas Trauth
Lieber Herr Trauth,
ich will gern versuchen, Ihnen bei der Klärung Ihrer Fragen zu helfen. Zu Ihrer ersten Frage habe ich schon einmal hier Antworten formuliert. Ich erlaube mir also, aus dieser Antwort zu zitieren.
"Wenn Christen sagen, dass durch Jesus Christus den Menschen ihre Sünden vergeben wurden, ist damit gemeint, dass sie davon erlöst wurden, selbst zu versuchen, alles immer richtig zu machen. Gott allein ist vollkommen, und es ist ein aussichtsloses Unterfangen, wenn wir Menschen versuchen wollen, selbst vollkommen zu sein. Eigentlich müsste Gott für immer ärgerlich mit uns Menschen sein, weil wir es nicht schaffen, uns an seine Weisungen und Gebote zu halten und vor allem, weil wir immer wieder versuchen, uns selbst wie Götter zu sehen.
Aber dann ist Gott in Jesus selbst Mensch geworden und hat sozusagen am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Gott hat diese Grenze zwischen Gott und Mensch selbst überwunden. Durch Jesus Christus hat Gott uns vergeben, dass wir sind wie wir sind. "Sünde" ist dabei ein Wort, das beschreibt, wie wir Menschen eigentlich sind. Es geht dabei nicht einfach um Fehler, die wir machen, sondern Gott wirft uns vor, dass wir uns zum Maß aller Dinge machen – uns selbst, und eben nicht Gott.
Das tun wir auch weiterhin, aber Gott hat uns das verziehen, und darum können wir darauf hoffen, dass er es uns auch weiterhin verzeiht, denn Gott weiß, wie es ist, Mensch zu sein." (Aus Frage "Sündenvergebung". Link)
Nun zu Ihrer zweiten Frage: Auch wenn es "salopp" von Ihnen formuliert ist, so stimmt doch Ihre Annahme an einigen Stellen mit gängigen theologischen Überlegungen überein: Die Bibel beschreibt in ihrer Gesamtheit, das, was wir "Heilsgeschichte" nennen. Gott hat die Welt und den Menschen geschaffen. Nach einiger Zeit stellt er fest, dass die Schöpfung nicht vollständig gelungen ist, denn die Erde "war verderbt" (Gen 6,12). Gott beschließt, alles Leben auszulöschen und schickt die Sintflut. Noah und seine Familie überleben durch Gottes Gnade ebenso wie die Tiere. Anschließend beschließt Gott, niemals wieder die Welt wegen der Menschen auszulöschen, denn "das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf." (Gen 8,21) Gott gibt sich aber nicht damit zufrieden, dass der Mensch ist, wie er ist. Gott Nimmt sich eine Familie vor, der er sich in besonderer Weise offenbart, und der er verheißt, dass sie einmal ein großes Volk mit einem eigenen Land wird. Abraham, der Famlienvater, glaubt Gott, und Gott hält seine Versprechen (Gen 12-50). Aus der Familie wird das Volk der Israeliten. Gott schließt mit diesem Volk einen Bund und gibt ihnen die Regeln, das Gesetz, das sie befolgen sollen, um ihren Teil des Bundes einzuhalten. Im Gegenzug wird Gott sich um sein Volk kümmern. (Ex 24)
Das Volk Israel bricht im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Gottes Gesetz und gerät immer wieder in Bedrängnis durch feindliche Nachbarstaaten. Eine Besatzung folgt auf die nächste. Man beginnt, auf einen Erlöser, einen Messias, einen Gottgesandten zu warten, der die Erlösung des Gottesvolkes bringt. Und nun trennen sich die Geschichten: Während das Judentum hofft, dass die Erfüllung von Gottes Weisungen dazu führt, dass Gott seinen Erlöser schickt, treten mit einmal Christen auf, die behaupten, Gott habe seinen Erlöser bereits geschickt. Jesus Christus habe die Erlösung seines Volkes von ihrer Unfähigkeit, ihren Teil des Bundes einzuhalten, dadurch gebracht, dass er – der Gottes einziger Sohn war – Mensch wurde und anstelle der Strafe, die uns zugestanden hätte, diese Strafe auf sich genommen hätte.
In diesem Sinne könnte man meinen, Gott habe einfach die "Geduld verloren", wie Sie es beschreiben. Etwas anders formuliert, könnte man behaupten, Gott habe zur Zeitenwende beschlossen, nicht nur sein Volk zu retten, sondern sich allen Menschen zuzuwenden - in dem Wissen, dass dies nur dadurch möglich ist, dass Gott den ersten Schritt tut. Darum ist Gott – mit allen Konsequenzen – Mensch wird. Das Christentum versteht sich tatsächlich so, dass wir dank dieser Heilstat Gottes ebenfalls zu Gottes Volk geworden sind. Der Apostel Paulus legt das in seinem Römerbrief dar (vor allem in Kapitel 9).
Diese ganze lange Geschichte, ist nach christlichem Verständnis eben Heilsgeschichte. Gott macht also tatsächlich auch eine "Entwicklung" durch, wenn sie so wollen. Ich würde nicht sagen, dass ihm die Geduld riss, sondern eher, dass Gott sah, dass der Mensch es von sich aus nicht schafft, Gott nahe zu kommen. Gott machte also schließlich, wie gesagt, den ersten Schritt. Die Bibel erzählt von der Geschichte Gottes mit den Menschen – vom Beginn an bis zum Ende dieser Welt, vom Chaos bis hin zur endgültigen Einheit von Gott und Mensch in einer neuen Schöpfung. Die Umwege, die die Menschen dabei machen und die Veränderung, wie Gott sie dabei begleitet, gehören zu dieser Heilsgeschichte dazu.
Ich grüße herzlich.
Frank Muchlinsky