Sehr geehrter Herr Muchlinsky,
ich befasse mich seit einigen Monaten intensiv mit dem Glauben und möchte behaupten, im Alter von fast 58 Jahren wieder zu Gott gefunden zu haben. Da ich mich aber nicht nur mit der „anerzogenen“ evangelischen Konfession zufrieden geben wollte, habe ich mittlerweile den Koran sowie das Tibetanische Totenbuch gelesen und mich ebenfalls mit dem Hinduismus und auch dem Judentum befasst.
Nach vielen Überlegungen und Abwägungen zwischen den zahlreichen Religionen fühle ich mich am wohlsten mit einem Glauben, dessen Bestandteil ein selbstverantwortliches Leben (Anhäufung von gutem und schlechtem Karma) nach den Lehren Buddhas ist und der auf einen Gott reduziert ist, so wie es der Islam sieht.
Nun stelle ich mir die Frage: Wenn ich glaube, dass kein Mensch, also auch Jesus, Auserwählter, bzw. Sohn Gottes oder menschgewordener Gott sein kann und der Heilige Geist eventuell lediglich die Umschreibung für unsere eigenen Fähigkeiten ist - darf ich mich dann noch als "Christ" bezeichnen?
Auf Ihre Antwort bin ich jedenfalls sehr gespannt und verbleibe mit freundlichem Gruß
Stefan S.
Lieber Herr S.,
man sagt, dass reisen bildet, und Ihre Reise zu verschiedenen Religionen hat Ihnen bestimmt ebenfalls eine Menge Erkenntnis beschert. Unser christlicher Glaube hat im Laufe der Jahrtausende schon viele Veränderungen erlebt, die nicht zuletzt durch die Begegnung mit anderen Religionen entstanden. Ideen aus der Philosophie fanden ebenso Eingang in das Christentum, wie Feste anderer Religionen. Es ist auch durchaus üblich, dass Christ:innen ihren Glauben durch Inhalte anderer Religionen anreichern. So glauben zum Beispiel ausgesprochen viele Christ:innen an eine Wiedergeburt, obwohl das dem biblisch-christlichen Verständnis von der Einzigartigkeit des menschlichen Lebens widerspricht.
Jede der großen Religionen, die Sie genannt haben, verfügt über ein eigenes in sich stimmiges System. Wer in diesem System lebt, wird sich auf möglichst stimmige Art mit ihm arrangieren. Ich meine damit, dass jede Religion eben nicht nur geglaubt werden will, sondern auch das Leben beeinflusst. Individualität spielt für die Religionen keine so große Rolle, wie in unserer deutschen Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wer Jude sein will, wird sich fragen, wie er nach der Tora leben kann. Er wird die großen Feste des Judentums feiern, genau wie ein Muslim die islamischen Feste feiert und den Koran als Richtschnur akzeptiert. Das Christentum ist ebenso eine Religion, die auf Gemeinschaft gegründet ist. So individuell der Glaube der einzelnen Christinnen und Christen auch sein mag, das Christentum ist doch die Gemeinschaft derer, die sich zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes bekennen. So entstand das Christentum, es ist seine Grundlage. Jeder Mensch, der Christ:in werden möchte, spricht dieses Bekenntnis zu seiner Taufe. Oder die Eltern tun es stellvertretend für ihn, bis er es selbst in der Konfirmation ausspricht.
Ihre interessante Komposition aus verschiedenen Elementen der Religionen ist darum in der Tat nicht mehr christlich zu nennen. Ebenso wie sie weder buddhistisch noch islamisch ist. Es ist Ihr persönlicher Glaube allein. Wenn Sie sich allerdings weiterhin als Christ verstehen, dann können Sie das gern tun. Ich werde Ihnen das sicherlich nicht verbieten. Es würde sich bestimmt lohnen, mit anderen Menschen in Ihrer Gemeinde über Ihre Ideen zu reden.
Mit freundlichem Gruß
Frank Muchlinsky