Guten Tag liebes Fragen-Team,
gibt es nach evangelischem Verständnis die Pflicht, anderen immer zu helfen? Ich meine damit nicht, in Notsituationen Erste-Hilfe zu leisten, sondern die anderen, vielfältigen Situationen. In der Bibel heißt es ja an vielen Stellen, wir sollen helfen, uns in Nächstenliebe üben, einander die Last tragen...
Manchmal bin ich, ehrlich gesagt, einfach zu müde und angestrengt nach der Arbeit, um mich noch anderen Menschen und ihren Problemen zuzuwenden.
Danke schon mal für Ihre Antwort!
Lena
Liebe Lena,
niemandem ist damit geholfen, wenn wir uns aufreiben und über unsere Kräfte hinaus versuchen, Gutes zu tun und anderen zu helfen. Trotzdem ist es schwer für mich, hier etwas Generelles zu sagen. Wenn Sie von der Arbeit kommen und gern die Beine hochlegen möchten, ist das völlig in Ordnung. Nächstenliebe muss nicht bedeuten, nach Feierabend noch Fundraising für gute Zwecke zu betreiben oder ehrenamtlich in einem Besuchsdienst zu arbeiten oder Obdachlosen Essen und Decken zu bringen. Es muss auch nicht heißen, die eigene Mutter zu Hause noch zu pflegen, wenn man von der Arbeit heim kommt. Das muss es nicht heißen, aber das kann es durchaus. Viele Menschen tun das, uns bestimmt tun es auch einige aus dem Gefühl heraus, dass sie eine Pflicht dazu haben.
Ich kann diesen Gedanken auch nachvollziehen, denn die meisten von uns haben so viel geschenkt bekommen, dass sie gern etwas zurückgeben möchten. Christlich kommt noch der wundervolle Glaube dazu, dass sogar unsere Schuld, die wir im Laufe unseres Lebens zwangsläufig auf uns nehmen, vergeben wird. Dankbarkeit ist also ein guter Grund, sich verpflichtet zu fühlen Gutes zu tun.
Aber ich wiederhole es gern: Niemand soll sich deswegen überarbeiten. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ sagt die Bibel. Sich selbst zu lieben ist nichts Schlechtes. Auf sich selbst aufzupassen, ist auch von Gott geboten.
Vielleicht hilft Ihnen dieser Gedanke weiter: Sie haben ja von Notsituationen geschrieben, in denen Sie anscheinend in jedem Fall helfen würden, egal wie lang der Arbeitstag war. Schauen Sie doch einmal darauf, wie sensibel Sie dafür sind, was eine Notsituation ist, was den Notfall ausmacht. Ist der Anruf einer Freundin, die gerade verlassen wurde, ein Notfall? Ist es auch noch ein Notfall, wenn Sie bereits fünfmal lange mit ihr telefoniert haben? Ist im Fernsehen die Nachricht von einem Erdbeben mit anschließend eingeblendeter Spendennummer eine Notsituation, die Sie berührt? Wie ist es mit Zahlen von ertrunkenen Flüchtlingen ohne Spendenaufruf?
Wir können nicht überall helfen und sollen es auch nicht. Was wir aber können sollten ist erkennen, wenn jemand unsere Hilfe braucht. Diese Hilfe in dem Moment zu verweigern, kann ein schlechtes Gewissen machen. Aber, wie bereits geschrieben, niemand kann ohne Schuld durchs Leben gehen. Und trotzdem wird uns vergeben. Außerdem ist es nicht schlimm, Hilfe auch zu delegieren. Gerade bei dem Punkt Pflege ist das häufig der bessere Weg. Sie sehen, es ist schwer, generell etwas zu sagen. Bleiben Sie einfach aufmerksam für sich selbst und dafür, wann man Ihre Hilfe braucht.
Alles Gute für Sie!
Frank Muchlinsky