Guten Abend,
ich habe eine Frage: Ist es Sünde, wenn man um sich selbst weint?
Es heißt in der Bibel "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst". Doch ist es nicht biederes Selbstmitleid, Egoismus, den man dann empfindet? Kopfgespräche, die man nur ansatzweise mit der (ggf. schon verstorbenen oder auch noch lebenden) Person führt oder nie geführt hat, Gefühle, in welchen man sich unglücklich, klein, schwach und elend fühlt. In welchen man sich seinen Gedanken und Gefühlen einfach so hin gibt? Mit dem Wissen, dass das Leben des anderen auch nicht einfach war, man Gründe findet, ihn oder sie zu entschuldigen. Und trotzdem hadert man mit den Menschen, die man um sich hat oder hatte. Man betrauert eigene Situationen, Gegebenheiten und auch das eigene Schicksal.
Ist man ein schlechter Mensch, wenn man das tut? Wenn man liebt, verzweifelt, manchmal das Gefühl hat, hassen zu können und trauern auf einmal?
Was ist Selbstliebe? Verzeihen Sie, ich weiß, was es ist. Aber sich trotzdem in den Gefühlen verlieren... Ist das eine Sünde?
Danke, falls Sie antworten.
Alles Schlimme und Schlechte, wie auch das Gute und Glücklich hat mich ja zu dem gemacht, was bzw. wie ich bin.
Aber darf man sich selbst auch "betrauern"?
Billa
Liebe Billa,
wenn das Leben es schlecht mit uns meint, wenn wir Schicksalsschläge erleben, dann tut uns das weh. Wenn etwas aber akut wehtut, dann weinen wir. Das kann auch geschehen, wenn ich mich hinsetze und nachdenke über das, was ich getan habe, oder vielleicht auch verpasst habe zu tun.
Wenn man dann anfängt, über die eigene Situation nachzudenken, kann es selbstverständlich auch zu Gedankenspiralen kommen, die uns immer weiter hinabziehen. Das kann man sicherlich "Selbstmitleid" nennen, aber in dem Begriff ist ja bereits eine Wertung enthalten. Ähnlich wie dem Eigenlob haftet dem Selbstmitleid etwas Anrüchiges an. Das liegt meines Erachtens vor allem daran, dass andere Leute schlecht damit umgehen können, wenn jemand deutlich stolz auf sich selbst ist, oder wenn jemand lange weint. Wenn wir jemanden weinen sehen, tut uns das gegenüber leid, und wir haben den dringenden Wunsch, dass das Weinen aufhört. Wir beginnen zu trösten, und nach einiger Zeit werden wir ungeduldig. Dann schwindet unser Mitgefühl, und es kann dazu führen, dass wir ärgerlich auf die Person werden, die da weint. Dann rutschen uns Sätze raus wie "Na, so schlimm ist es doch auch nicht." Oder auch: "Nun reiß Dich mal zusammen."
Ich denke, dass wir solche Sätze verinnerlichen, und so kommt es, dass wir ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn wir uns "selbst leid tun". Denn wir haben ja gelernt, dass unser "Selbstmitleid" andere Menschen ärgerlich macht. Ich habe den Eindruck, um so etwas geht es auch in Ihrer Frage. Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es bei Ihrer Frage um einen Trauerprozess, der andauert. Das ist eine ausgesprochen unangenehme Situation, wenn man nicht vorankommt, sondern hadert, grübelt und Situationen immer und immer wieder durchdenkt.
Nicht weiter zu kommen in solchen Situationen ist schrecklich, aber sie ist sicherlich keine "Sünde". In der Bibel gibt es immer wieder Geschichten, in denen es Menschen genau so geht. Nehmen Sie zum Beispiel Elia, der in die Wüste geht, weil er mit seinem Leben nicht mehr zurande kommt. Er legt sich hin und bittet Gott, ihn doch sterben zu lassen. "Ich bin auch nicht besser als meine Vorfahren!", seufzt er. Elia tut sich selbst ausgesprochen heftig leid. Aber Gott kommt nicht zu ihm und sagt: "Hör auf zu jammern!" Er schickt ihm einen Engel mit Wasser und Brot. Dann sagt der Engel: "Steh auf, und iss!" Und es geht ja noch weiter. Elia isst und trinkt, aber er legt sich wieder hin. Selbstmitleid vergeht nicht so schnell. Darum macht der Engel dasselbe eben noch einmal. Er gibt Elia die Zeit, die er braucht. Und schließlich geht Elia von sich aus weiter. (Die ganze Geschichte steht in 1. Kön 19)
Wer nicht nur sich selbst liebt, sondern auch andere, sollte sich selbst auch dieselben Zugeständnisse machen, die er anderen macht. Wer Mitleid für andere empfindet, darf das auch für sich selbst empfinden. Aus dem Selbstmitleid nicht wieder herauszufinden, ist schrecklich. Sünde ist es nicht. Und wir dürfen hoffen, dass Gott uns einen Engel schickt, der uns begleitet, bis wir weitergehen können.
Herzliche Grüße,
Frank Muchlinsky