Ist Gott in beiden Teilen der Bibel derselbe?

Antje Wolf

Einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen und habe beim Bibellesen stets folgende Frage:

Wie kann der unbarmherzige Gott des alten Testaments der gleiche wie im neuen sein? Gott ist die Liebe und sandte uns seinen Sohn, der Nächstenliebe verbreitete. Im alten Testament sterben Völker durch die Einnahme der 12 Stämme in Israel, nachdem sie aus Ägypten zurückkehrten, es stirbt Jeftahs Tochter als Opfer und alles durch Gottes Hilfe. Ist Gott wie ein Elternteil, das während seiner Erziehung lernt? Verliert er dadurch nicht die göttliche Bedeutung oder habe ich nach mehrmaligem, kompletten Lesen der Bibel alles ganz falsch verstanden? 

Für Ihre Antwort wäre ich sehr dankbar. 

Liebe Grüße Antje

Liebe Antje,

über Ihre Frage habe ich mich zunächst gewundert und gedacht: "Wenn die Antje die Bibel mehrmals und komplett gelesen hat, warum fällt ihr das erst jetzt auf?" Offenbar muss man - wie Sie - sehr gründlich lesen bis man auf diese Frage kommt. 

Doch deutlich ist: Schon am Anfang der Bibel erschlägt Kain seinen Bruder Abel. Ein erster Mord und Gott begegnet dem Täter mit Gnade und lässt ihn laufen. (1. Mose 4) Man kann fragen: Wird der gnädige Gott nicht selbst schuldig, weil er nicht vernichtend straft, das Unrecht an der Wurzel packt und es endgültig ausreißt? Und das geht so weiter bis die Wasser der Sintflut endgültig abgelaufen sind, da schließt Gott einen Bund: "Dass hinfort nicht mehr alles Fleisch ausgerottet werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe." (1. Mose 9,11) Gerade in den unsicheren Zeiten, die wir jetzt gerade erleben, bietet diese Zusage Gottes Halt und macht mir persönlich Mut.  Trotz der Gewaltszenarien, die sich drohend vor uns auftun, hält Gott an seiner gnädigen Treue fest.  

Wenn ich die Bibel lese, geht es mir ähnlich wie Ihnen, immer wieder bin ich überwältigt, dass selbst nach furchtbaren Gewaltexzessen die Geschichte des Glaubens weiter geht. Natürlich hätte Jephta sich weigern können, "Nein" sagen und sich gegen sein eigenes Gelübde entscheiden müssen. Das wäre ja die Möglichkeit, die Sie oder ich wählen würden, aber daran denkt er nicht. Und schlimmer noch: Gott hatte das Opfer nicht von ihm gefordert. Die Lektion ist einfach: Versprich nichts, was das Unheil noch weiter vermehren könnte. 

Zur Landnahme gibt es neue, ältere und alte Theorien, die mit archäologischen Untersuchungen und kritischer  Durchsicht späterer Bibeltexte die Landnahme friedlicher beschrieben. Nach neuerer Forschung war sie eher ein langsames, kontinuierliches Zusammenleben unterschiedlicher Stämme und Gruppe im verheißenen Land. 

Wir können die Bibel trotz neuer Erkenntnisse und anderer Moralvorstellungen natürlich nicht umschreiben. Niemand will Gott Vorwürfe machen für das, was in der Bibel zu lesen ist. 

Gott einfach neu erfinden, nur weil einige Bibeltexte unbequem sind? Nein, das geht auch nicht. 

Man muss aber festhalten: Die Bibel verschweigt selbst die krassen Seiten der Gewalt nicht, sie sieht hin, beschreibt und stellt sich der Realität. Dass das Leid und Elend eines Menschenlebens im Glauben nicht verschwiegen wird, ist die Stärke des christlichen Glaubens. Hier wird nichts weggebügelt sondern voller Demut ertragen. Jesu Gebet am Kreuz beschreibt genau das, was viele Menschen erleben müssen: "Mein Gott Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Psalm 22,2) Das Gebet Jesu stiftet - wenige Sätze später - auch Hoffnung: "Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!" (Psalm 22,20)

In der Bibel sind unzählige Erzählungen, Traditionen und kulturelle Strömungen verbunden. Gotteserfahrungen und Gottesbilder aus über einem Jahrtausend fließen hier zusammen. In beiden Testamenten wird immer wieder deutlich: Gott ist Schöpfer, er rettet Menschen, vergibt Sünden, übt Gnade, erbarmt sich der Menschen und bleibt zweifellos auch dann gerecht, wenn man es auf den ersten Blick nicht sieht. In diesem Sinne sind - Sie haben es ja selbst gelesen - die beiden Teile der Bibel eng miteinander verbunden. 

Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Ihr Henning Kiene 

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