Kirche bei Bedarf

Reformreligiöser

Ich bin der Meinung, dass in der Zukunft folgendes normal sein sollte: Jemand ist 10 Jahre Mitglied in einer Kirche, dann 50 Jahre lang nicht, und dann ist er wieder 10 Jahre lang Mitglied. Meiner Meinung nach sollte 100-mal weniger Geld ausgegeben werden für Religion. Dies kann u. a. durch eine starke Verkleinerung der Kirche erreicht werden. Jemand, der (vorübergehend) nicht Mitglied in einer Kirche ist, kann trotzdem ein religiöses Leben haben. Stimmen Sie dem zu?

Sehr geehrter „Reformreligiöser“,

 

Sie sprechen zweierlei Themen an, deshalb kann ich Ihre Entscheidungsfrage nicht so klar beantworten, wie Sie sich das vielleicht erhoffen.

 

Ich stimme Ihnen darin zu, dass jemand, der nicht Mitglied einer Kirche im Sinne der Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, ein „religiöses Leben haben kann“. Theologische Gründe bewegen mich zu dieser Antwort: Gott hat auch die Welt außerhalb der Kirche geschaffen. Hier bezeugt er sich nicht weniger als in der Kirche selbst. Es gibt und gab schon immer einen „freien Geist des Protestantismus“ außerhalb der verfassten Kirche.

 

Ich frage mich allerdings, wie ein „religiöses Leben“, so verstanden, dann aussehen kann. Evangelischer Glaube zielt immer auch auf Gemeinschaft. Das bedeutet nicht, dass man immer und ständig beisammen ist, sondern meint: Gemeinschaft des Glaubens, des Gebetes, der Anteilhabe, auch der Solidarität untereinander. Ich glaube, dass kein Glaube so groß ist, dass er ohne die wechselweise Unterstützung Anderer leistungsfähig genug ist, um das Leben als Christenmensch zu bestehen. Von daher erscheint mir die Annahme, als evangelische/r Christ/in außerhalb der Kirche „ein religiöses Leben zu haben“, auf Dauer relativ konstruiert.

 

Ihre vorherigen Ausführungen beziehen sich auf die Mitgliedschaftsverhältnisse in unseren deutschen Landeskirchen. Ich frage mich: Was sollte die Kirche lassen – da sie doch nicht weiß, was Sie – ja, Sie selbst – nach 50 Jahren dann von der Kirche „benötigen“? Eine reine Dienstleistungskirche müsste sich davon verabschieden, Ort des gelebten Glaubens zu sein, Ort der Solidarität all derer, die sich zu Jesus Christus bekennen. Wo gäbe es  - „nach 50 Jahren“ – Anknüpfungspunkte?

 

Wenn ich Ihren Gedanken weiterdenke, frage ich mich, wer dieser Kirche aus welchen Gründen angehören wird. Wie diese Kirche aussehen würde? Wenn Sie auf dem Land wohnen, müssten Sie vielleicht 50-60 km fahren, um einen qualifizierten Mann/ eine qualifizierte Frau der Kirche zu treffen, mit der Sie Lebens- und Glaubensfragen besprechen könnten. Genauso für Konfirmandenunterricht Ihrer Kinder. Keine Pfarrperson besucht Ihre Mutter zum Geburtstag, und wenn Sie an einem regelmäßig stattfindenden Kreis teilnehmen würde, ginge das nicht mehr, weil es keinen Raum gäbe, wo das möglich ist. Vielleicht würde in dem Ort, in dem Sie leben, sogar die Kirche abgerissen. Wenn Ihr Enkelkind getauft würde, müssten Sie ein halbes Jahr auf einen Termin warten und die Kirche dann vorher auch noch selbst putzen. Musik gäbe es nur von CD. Selbstverständlich würde Ihnen die Dienstleistung in Rechnung gestellt, und mehr und mehr würden Pfarrpersonen vor allem das machen müssen, was sich finanziell rentiert. Beratungsstellen, Kindertagesstätten, Diakoniestationen und auch Einrichtungen der Alten- und Krankenpflege gäbe es viel weniger in unserem Land. Es gäbe keine Telefonseelsorge, keine Bahnhofsmission, und keine geistliche Begleitung für kranke oder inhaftierte Menschen. Sondern nur da und dort – wo es sich eben lohnt – DienstleisterInnen für diejenigen, die einem religiösen Bedürfnis nachgehen wollen und sich professionelle Unterstützung leisten können. Diese Kirche ist denkbar. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich halte sie nicht für wünschenswert.

 

Mir geht es so, dass ich dankbar bin, in einer Zeit zu leben, in der Kirche beides ist: Eine Institution, die die christlichen Hintergrundprozesse in unserer Gesellschaft aufrecht erhält, und eine Organisation, in der Kirchenmitglieder qualitativ hochwertige Ausdrucks- und Bildungsangebote aus evangelischer Perspektive erhalten können.

 

Freundlich grüßt

Friederike Erichsen-Wendt