Die Heilige Familie und die Orientierungshilfe der EKD

Jochen

Lieber Herr Muchlinsky,

als evangelischer Christ bin ich nach der Lektüre der Orientierungshilfe der EKD zu Ehe und Familie verunsichert und frage mich, inwieweit erwartet wird, dass die darin geäußerten Aussagen von allen evangelischen Christen mitgetragen werden. Oder stellen sie nur die momentane Meinung einer Expertenkommission dar? Vieles darin entspricht nicht den Vorstellungen, die ich als Kind von Eltern und Großeltern übernommen habe.

Die knappe "Theologische Orientierung" (Seite 54 bis 71), so habe ich den Eindruck, will
die Bedeutung der Ehe zwischen Mann und Frau eher relativieren als stärken, und Jesus, Josef und Maria werden als "Heilige Familie" überhaupt nicht erwähnt. Dabei wird anhand der Weihnachtsgeschichte, die wirklich jeder Christ kennt, der Sinn von Familie mit Herz und Verstand erfahrbar. Bei Josef und Maria sowie bei Abraham und Sarah, letztere werden leider nur knapp im Zusammenhang mit "Patchwork-Konstellationen" (Seite 56) erwähnt, hat die Ehe sogar eine heilsgeschichtliche Dimension. Weshalb spielt das in der Orientierungshilfe offenbar keine Rolle? Weil die Ehe ein "weltlich Ding" sein soll?

Viele Grüße, Jochen.

Lieber Jochen,

 

zunächst einmal wird von Ihnen nicht erwartet, dass sie mittragen müssen, was die EKD in ihrer Orientierungshilfe veröffentlicht hat. Es ist eines unserer evangelischen Grundprinzipien, dass wir Gläubigen lediglich das "unterschreiben", was für uns als Bekenntnis gilt. Die von Ihnen genannte Orientierungshilfe hat keinerlei Bekenntnischarakter. Sie will lediglich deutlich machen, was unsere Kirchen angesichts einer sich verändernden Gesellschaft leiten sollte. Wie gehen wir damit um, dass "Familie" heute nicht mehr lediglich als Vater, Mutter, gemeinsames Kind existiert? Wie ist es möglich, auch christlich-evangelisch mit diesem Umstand, angemessen umzugehen. Dafür haben sich Menschen zusammengesetzt und Gedanken formuliert, die sowohl dem biblischen Zeugnis als auch unserem Bekenntnissen als auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechen. Dabei ist eingeschlossen, dass man bestehende Vorstellungen hinterfragt und auch Menschen, die in diesen Vorstellungen aufgewachsen sind, verunsichert, wie das in Ihrem Fall anscheinend geschehen ist. Da unsere evangelische Kirche aber eine diskussionsfreudige und vielfältige ist, dürfen Sie selbstverständlich Ihre Bedenken äußern.

 

Nun zu dem biblischen Zeugnis, das Sie ansprechen. Sie schreiben, dass in der "Heiligen Familie" (also Maria, Josef, Jesus) "der Sinn von Familie mit Herz und Verstand erfahrbar" wird. Da möchte ich Ihnen aus vollem Herzen zustimmen. Da wird eine junge Frau schwanger, und ihr Verlobter bleibt bei ihr, obwohl das Kind nicht von ihm ist (Mt 1,18-25). Der Ziehvater bleibt anscheinend mindestens so lange bei der Mutter, bis der Junge 12 Jahre alt ist. Das ist wirklich ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, trotz sehr schwieriger Umstände, eine Familie zu haben. Allerdings: Später taucht es nicht mehr in den Evangelien auf. Der Junge macht seinen Eltern bereits mit 12 Jahren deutlich, dass sein wirklicher Vater ihm wichtiger ist, als die beiden, bei denen er wohnt (Lk 2,41-52), und als er mit Zirka 30 Jahren anfängt, predigend durch die Gegend zu ziehen und seine Mutter und seine Geschwister nach ihm sehen wollen, lässt er ihnen ausrichten, dass er ganz andere Mütter und Geschwister hat als sie (Mk 3,31-35). Mir hat nie eingeleuchtet, warum ausgerechnet diese "Heilige Familie" als Beispiel für eine heile Familie nach bürgerlichem Maßstab herhalten kann. Irgendwie ist  es im 19. Jahrhundert aber gelungen, diese zusammengesetzte "Problemfamilie" zu einem funktionierenden Vorbild für "Vater, Mutter, Kind" zu machen. Wie gesagt: Ein Vorbild sind sie für mich immer noch, insofern als die drei aus ihrer unmöglichen Situation etwas machen. Sie halten zusammen, trotz aller Umstände. Sie fliehen sogar gemeinsam und schützen so Marias Kind (Mt 2,13-23). Ich habe große Hochachtung vor den beiden Eltern, aber die Tatsache bleibt, dass diese Familie heilig aber nicht heil ist.

 

Die Bibel kennt kaum irgendeine Familie, die unseren bürgerlichen Maßstäben entsprechen könnte. Meistens ist es unerfüllter Kinderwunsch, der die Protagonisten "gewagte" Pfade gehen lässt. Dazu gehören nicht zuletzt auch Sarah und Abraham, die sich darauf verständigen, Hagar mit in die Familie zu holen, damit Abraham einen Sohn mit ihr zeugen kann. (Gen 16). Ich denke darum, es ist richtig, wenn die Orientierungshilfe der EKD darauf verweist, dass ein sehr weiter Familienbegriff, wie er sich in unserer heutigen Gesellschaft durchsetzt, auch biblisch-christlich angemessen ist. Wichtig ist, dass – wie Sie auch schreiben – eine Familie ein Zusammenschluss von Menschen ist, die "mit Herz und Verstand" für einander da sind und einander lieben.

 

Wie eingangs erwähnt, müssen Sie das nicht so sehen wie ich. Ich hoffe trotzdem, dass ich Ihnen deutlich machen konnte, was ich zu dieser Angelegenheit zu sagen habe.

Ich grüße sehr herzlich!

 

Frank Muchlinsky