Ich frage mich eigentlich, warum nicht öfter in den Gemeinden solche Fragen gestellt werden wie oben (der junge Mensch der unter Depressionen usw. leidet). Gemeinde ist immer fröhlich, Trallalla Heidewitzka, uns geht‘s ja sooo gut. Kann man nicht einmal pro Monat einen Klagegottesdienst machen, damit sich normale Menschen, die nicht ständig auf Wolke sieben sind, auch mal vertreten und angenommen fühlen? Wenn es mir Schieße geht, habe ich keine Lust auf Halleluja und Lobgesänge! Das ist verkehrte Welt, irgendwie. Dann denke ich: Jubelt doch alleine und das Letzte, wo ich dann hinginge, ist Gemeinde. Da fühle ich mich NOCH schlechter. Im Moment müsste da einiges passieren, dass ich mal wieder in eine Gemeinde gehe. Dann noch eher einen schönen katholischen Gottesdienst, da ist eher Raum für das Normale, sprich das Negative. Mit freundlichen Grüßen
Liebe Frau W.,
Zunächst staune ich. Üblicherweise beschweren sich Menschen, die evangelische Gottesdienste besuchen, eher darüber, dass sie so nüchtern und eher trist sind. Aber diese Kritik richtet sich an Gemeinden, die ihre Gottesdienste eher in der traditionellen Weise feiern. Ich nehme an, dass in Ihrer Gemeinde beim Gottesdienst der Lobpreis stark im Vordergrund steht.
Es kann durchaus passieren, dass Gemeinden, die sich dieser Kultur des Lobpreises verschreiben, den Blick für das Schwere verlieren. Das liegt auch an der theologischen Ausrichtung, die dahintersteht: Gott ist groß und gut und verlangt danach, dass ich ihm ständig danke. Wenn es mir schlecht geht, ist Gott für mich da, und ich habe gleich wieder einen Grund zu danken. Sollte ich Gott nicht spüren, liegt es an mir, nicht etwa an Gott. Ich muss mich also noch mehr Gott zuwenden. Für diese Haltung wird hier und da der Begriff „Gottestreue“ verwendet. Damit ist dann gemeint, dass man – egal wie es einem geht – zu Gott halten soll.
Diese Haltung ist in vielfacher Weise problematisch. Eine Seite beschreiben Sie selbst: Wem eher nach Klagen zumute ist als nach Lob, fühlt sich ausgeschlossen. Depression muss zwangsläufig als Makel betrachtet werden, denn sie ist ein Zeichen für mangelndes Vertrauen in Gott. Nicht zuletzt ist diese Haltung ausgesprochen unbiblisch, denn sie verkennt, dass die Bibel voll ist von Menschen, die ihre Sorgen, ihre Not und ihre Verzweiflung Gott entgegenschreien.
Die Klage gehört zum christlichen Gottesdienst schon immer dazu, und das ist gut so. In der Klage wird deutlich, dass wir Gott ernst nehmen. Wer in einer ernsthaften Beziehung lebt, wird nicht auf das Klagen verzichten, auch nicht auf das Streiten. Der christliche Gott, wie ihn die Bibel bezeugt, lässt mit sich streiten. Er verlangt nicht nach Ja und Amen, sondern nach einer Liebesbeziehung. Liebende zeigen sich dem geliebten Gegenüber so, wie sie sind. Sie lächeln nicht, wenn ihnen nach Weinen zumute ist. Sie vertrauen einander auch ihre dunklen Gedanken an.
Wie gesagt, die Klage ist eigentlich ein fester Bestandteil des Gottesdienstes. In traditionellen Gottesdiensten versteckt sie sich ein wenig in liturgischen Gesängen. „Kyrie eleison“ heißt „Herr, erbarme dich!“ Es gehört in den Anfangsteil des Gottesdienstes zusammen mit dem „Gloria“, dem „Ehre sei Gott!“ Zusammen sagen diese Gesänge: So, wie wir sind, kommen wir zusammen und zu Gott. Leider ist diese Bedeutung von Gloria und Kyrie kaum noch jemandem bekannt, und wer es doch weiß, wird es im Gottesdienst vielleicht kaum noch fühlen, dass damit gesagt ist: Du bist richtig hier, egal, wie Du herkommst.
Sie schreiben „Im Moment müsste da einiges passieren, dass ich mal wieder in eine Gemeinde gehe.“ Ich gebe Ihnen Recht. Es muss einiges passieren, damit unsere Gottesdienste verständlich und feierlich sind und gleichzeitig Menschen in jeder Lebenslage vorkommen können. Lobpreis allein ist nicht der Weg.
Herzliche Grüße!
Frank Muchlinsky