Hallo Herr Muchlinsky,
Ich habe mich bei meinen Ausflügen durch die Bibel in den letzten Tagen mit den Texten zur Bundeslade, zum Versöhnungstag und zum Vorhang im Tempel, der beim Tod Jesu zerriss, beschäftigt.
Um die Bundeslade geht es in folgenden Texten:
2. Mose 25,10-22
1. Samuel 4,1-22
1. Samuel 5,1-7,1
2. Samuel 6,1-23
1. Könige 8,1-9
In 2. Mose 25,10-22 wird genau beschrieben, wie die Bundeslade aussehen soll.
Nach ihrer Anfertigung begleitete die Lade die Israeliten auf ihrem Weg durch die Wüste. Nach einem Kampf mit den Philistern nahmen diese den Israeliten die Lade weg. Sieben Monate war die Lade nun bei den Philistern. Danach brachten sie die Lade zurück. David holt sie später nach Jerusalem. Nach der Erbauung des Tempels holt Salomo die Bundeslade aus Jerusalem und stellt sie in das Allerheiligste des Tempels. Das Allerheiligste mit der Lade ist durch einen Vorhang vor den Blicken der Menschen geschützt. Bei der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar wird der Tempel zerstört, die Bundeslade verschwindet und taucht nie wieder auf. (587 v. Chr.)
3. Mose 16,1-34 berichtet sehr ausführlich über den Versöhnungstag. Nur an diesem Tag, (einmal im Jahr) darf der Hohepriester das Allerheiligste mit der Lade betreten. Im Allerheiligsten und an der Lade fand die Entsühnung die Sünden der Menschen statt.
Meine Fragen hierzu sind folgende: Wie wurde der Versöhnungstag zur Zeit Jesu im Judentum begangen, wo doch keine Bundeslade mehr im Allerheiligsten stand? Wie begehen die Juden heute den Versöhnungstag?
Bei den Evangelisten wird berichtet, dass der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerriss, als Jesus am Kreuz starb. (Matthäus 27,51-53, Markus 15,38 und Lukas 23,44-45. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist in den Texten der Vorhang vor dem Allerheiligsten gemeint. Was hat, für uns Christen, dieses Zerreißen des Vorhangs im Tempel, bei Jesu Tod, für eine Bedeutung?
Über eine Antwort auf meine Fragen würde ich mich sehr freuen.
Vielen Dank und Herzliche Grüße
Susanne
Liebe Susanne,
da haben Sie aber schon recht gründlich geforscht! Ich weiß nicht, ob zu Ihren Quellen auch bereits der Artikel von Siegfried Kreuzer im Wibilex zählt. Falls nicht, hier ist der Link. Aber Ihre Fragen gehen ja weit über die Bundeslade hinaus und beziehen sich vor allem auf den Versöhnungstag und das Allerheiligste im Jerusalemer Tempel. Sie fragen, wie der Versöhnungstag zu Jesu Zeiten begangen wurde, und ich kann Ihnen darauf leider nur antworten, dass man das nicht weiß. Mit ziemlicher Sicherheit war das Allerheiligste im zweiten Tempel leer. Sicherlich wurde auch zur Zeit Jesu das Große Versöhnungsfest so gefeiert, dass der Priester das Allerheiligste betrat und dort die Riten vollzog, wie sie in 3.Mos 16 beschrieben sind. Die Anwesenheit der Lade war insofern nicht zwingend notwendig, weil sie "lediglich" die Anwesenheit JHWHs symbolisierte.
Heute wird im Judentum der Jom Kippur (der Versöhnungstag) zum größten Teil in der Synagoge gefeiert. Es ist sowohl ein Tag der Versöhnung mit Gott als auch ein Tag der Versöhnung mit anderen Menschen. Darum soll jeder fromme Jude sich zuerst mir denjenigen Menschen versöhnen, mit denen er im Streit liegt, bevor er sich mit Gott versöhnt. Jom Kippur ist ein Fastentag, der vor ellem im Gebet verbracht wird. Ein Opfer wird nicht mehr vollzogen. Auf den Seiten "Jüdische Geschichte und Kultur" gibt es weitere Informationen dazu.
Was nun die Bedeutung des Zerreißen des Vorhangs vor dem Allerheiligsten betrifft, von dem die Evangelien berichten, so müssen wir uns klar darüber sein, was das Allerheiligste für die Juden bedeutete. Es war der Ort der realen Präsenz Gottes. Es war sozusagen die Schnittstelle zwischen göttlicher und menschlicher Welt. Diese Schnittstelle war für jeden Menschen ausgesprochen gefährlich, denn die Anwesenheit Gottes ist so gewaltig, dass sie für Menschen tödlich ist. Nur unter genauester Beachtung der Riten konnte ein Priester sich dem Allerheiligsten nähern. Ein Tempel ist eben keine Synagoge oder eine Kirche, von denen es viele geben kann. Der Tempel – und besonders das Allerheiligste – war die Wohnung Gottes selbst.
Wenn nun erzählt wird, dass bei Jesu Tod der Vorhang zerriss, der diesen Bereich von der Außenwelt trennte, so kann man sich folgende Interpretationen dazu überlegen: Es kann bedeuten, dass im Moment, an dem Jesus stirbt, der Ort der großen Versöhnung unwichtig wird, weil am Kreuz das wichtigste Versöhnungsgeschehen Gottes gerade passiert. Eine andere Überlegung wäre, dass das Zerreißen des Vorhangs eben deutlich macht, dass ab dem Moment des Todes Jesu die Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Welt endgültig durchbrochen ist: Gott ist nun vollständig Mensch geworden, weil er sogar gestorben ist. Vielleicht fällt Ihnen auch noch eine ganz andere Interpretation ein.
Herzliche Grüße