Sollen sich Christ:innen politisch engagieren?

Susanne
Menschen demonstrieren auf Straße
© Leon Bublitz/Unsplash

Hallo Herr Muchlinsky,
ich habe mal wieder eine Frage, die mir sehr unter den Nägeln brennt und mir keine Ruhe lässt. Es heißt immer, dass Christen politische Verantwortung übernehmen sollen (zum Beispiel die Teilnahme an Wahlen). Wo aber steht in der Bibel ein Text, der sagt, dass Christen politische Verantwortung übernehmen und sich einbringen sollen?
Was politisch in unserm Land abläuft, empfinde ich als unerträglich. Egal, ob auf Bundes- oder Landesebene. Die Politiker "pflegen" untereinander in ihren Debatten einen Ton, der mich verschreckt. Egal, was die Regierung auch macht, die Opposition ist ausnahmslos und immer dagegen und tut dies auch lautstark und, in meinen Augen, unkollegial kund. Die Gesellschaft ist zerrissen, aber die politischen Parteien sind es genauso.
Ich habe bisher immer "schön brav" an allen Wahlen teilgenommen und mein Kreuzchen gemacht. Aber mit meiner "popeligen Stimme" konnte ich die "AfD" und ihre Erfolge bei keiner Wahl verhindern. Das macht mich sauer und ärgert mich zutiefst. Meine Stimme hat scheinbar so wenig Einfluss, dass es mir schwer fällt, in Zukunft noch von meinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Gleichzeitig möchte ich aber eine gute Christin sein und mein Leben nach dem ausrichten, was die Bibel sagt.
Darum meine Frage, die ich zu Beginn meines Textes bereits formuliert habe, in der Hoffnung, dass Sie mir eine Antwort geben können und mir damit aus dem Dilemma, in dem ich stecke, heraus helfen.
Herzliche Grüße,
Susanne

Liebe Susanne,

wie schön, dass Sie sich mal wieder mit einer interessanten Frage melden! Ich kann Ihre Frustration gut nachvollziehen. Die politische Kultur in unserem Land und weit darüber hinaus ist auch nach meiner Einschätzung giftig. Auch das Gefühl, dass meine Stimme bei Wahlen wenig zählt, kenne ich. Allerdings schöpfe ich meine Motivation, mich politisch zu engagieren nicht aus einem biblischen Auftrag, sondern vielmehr aus der Dankbarkeit, dass ich in einem Staat leben darf, in dem es überhaupt möglich ist, sich ohne irgendwelche Befürchtungen offen zu äußern und zu agieren. Ich will, dass das so bleibt, und darum trage ich meinen sicherlich kleinen Teil dazu bei.

Da Sie meine Antworten ja gut kennen, können Sie sich darüber hinaus bereits denken, dass ich Ihnen nicht mit einer oder zwei Bibelstellen kommen werde, die uns Christ:innen "unwiderleglich" sagen, dass wir uns politisch engagieren sollen. So funktioniert die Bibel nicht – oder zumindest sollte sie so nicht funktionalisiert werden. Die Bibel ist das für das Christentum gültige Zeugnis der Offenbarung Gottes. Ihre Texte sind nicht göttlichen Ursprungs, sondern sie sind in einem langen Prozess verfasst, redigiert und – ganz wichtig – zu einem Buch zusammengestellt worden. Die Kirche hat sich darauf geeinigt, dass es diese und keine anderen Texte sind, die für uns Gültigkeit haben. Das bedeutet freilich nicht, dass wir sie wörtlich befolgen sollen. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, die Bibel in ihrer Gesamtheit als Zeugnis der Offenbarung wieder und wieder auszulegen, damit sie eine Bedeutung für unser Leben haben und behalten kann.

Nach diesem kleinen Ausflug jetzt aber konkret zu Ihrer Frage: Die Bibel soll ja durchaus Richtschnur für christliches Handeln sein. Und dabei muss uns klar sein, dass es eben nicht allein um privates Verhalten geht. Sei es als Ebenbilder Gottes, sei es als Jünger:innen Jesu. Immer wieder wird in der Bibel deutlich, dass wir Verantwortung tragen, nicht nur für uns selbst, sondern für andere, ja selbst für die ganze Schöpfung. Christlicher Glaube dient nicht allein dem eigenen Seelenheil. Er drückt sich im Zusammenleben aus. Sei es in den 10 Geboten, sei es in dem, was Jesus uns gebietet oder was Paulus uns lehrt. Immer geht es auch um das gute Miteinander. Und natürlich bedeutet das auch, sich in der Gesellschaft, in der man lebt, entsprechend zu engagieren. Und wo sollte da Schluss ein? An den Grenzen von Parteipolitik? Sollten wir still sein bei wichtigen Themen, weil gerade Parteien um dieselben Themen streiten? Sollen wir unseren Mund halten, wenn es um Geflüchtete geht, selbst wenn wir davon überzeugt sind, dass wir Gottes Willen tun, wenn wir Geflüchteten helfen? Sollen wir aufhören uns zu engagieren, weil es Politiker gibt, die uns deswegen verunglimpfen? Natürlich nicht!

Meinen Sie nicht, dass Sie allein sind, nur weil die anderen lauter schreien. Bringen Sie Ihre Stimme weiter ein: bei Wahlen und bei anderen Gelegenheiten. Singen Sie mit, wenn vom Frieden gesungen wird. Gehen Sie mit, wenn für Liebe marschiert wird. Unterschreiben Sie Petitionen. Tun Sie sich zusammen mit anderen Menschen, die Gutes tun, anstatt andere als Gutmenschen zu beschimpfen. Wenn Sie sich mit anderen zusammentun, werden Sie schnell merken, dass jede und jeder Einzelne zählt.

Ich hoffe, ich konnte ein wenig weiterhelfen und grüße Sie sehr herzlich.

Frank Muchlinsky

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