Thomasevangelium

Vera Borchardt

Ich habe gerade das thomasevangelium gelesen und
mich gefragt, warum es wohl aus dem gesamten Bibelkontext verschwinden musste.
Ich meine, dass z.B.die Frage nach der Stellung der Tiere in der Bibel keinen Raum einnimmt beschäftigt mich - für mich haben Tiere z.B. Eine Seele.
Ich habe einen schwerkranken Hund und bin deshalb wohl sehr "angeschlagen "- wie denken Sie darüber?
Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen und bedanke mich im voraus.
V.Bochardt

Sehr geehrte Frau Borchardt,

 

neben den Schriften, die in unserer Bibel überliefert sind, gibt es eine Vielzahl von Texten und Briefen, die daneben oder kurz danach geschrieben und in einem Teil der frühchristlichen Gemeinden gelesen und überliefert wurden. Dazu gehört auch das Thomasevangelium. Streng genommen ist es nicht „aus dem Bibelkontext verschwunden“, wie Sie schreiben, sondern es stand nie darin.

 

Bis heute gibt es nach evangelischem Verständnis keinen Lehrfestschreibung auf einen bestimmten Kanon biblischer Bücher, sondern die uns bekannte Zusammenstellung von Texten hat sich durch Gebrauch, vor allem in den gottesdienstlichen Zusammenkünften der Christen und Christinnen, eingestellt. Dabei setzten sich vor allem diejenigen Schriften durch, die mit der Zeit in verschiedenen Gemeinden in Gebrauch waren und so auch eine weitere Verbreitung erfuhren. Nun kann man viel darüber spekulieren, weshalb dies bei dem einen Text der Fall ist, beim anderen nicht. Ein möglicher Grund, was das Thomasevangelium angeht, könnte darin liegen, dass das Thomasevangelium aus einer losen, manchmal über Stichworte verknüpften Ansammlung einzelner, Jesus zugeschriebener Worte besteht und keinen durchgehenden Erzählfaden hat, der die – meist mündliche – Überlieferung unterstützt hätte. Vermutlich hatten die Menschen, die das Thomasevangelium überlieferten, einen ganz eigenen Zugang zu den mündlichen Erzählungen und Worten von Jesus, die sie mit einer häufig sehr eigenständigen Weltsicht verbanden, die die Deutung der Worte in einen mythologischen Zusammenhang brachte.

 

An einem Beispiel, bei dem von den Tieren die Rede ist, will ich das verdeutlichen – vielleicht haben Sie dieses Wort im Sinn, wenn Sie davon schreiben, dass Sie insbesondere die Stellung der Tiere im Thomasevangelium angesprochen hat.

 

Das Logion 3 heißt wie folgt:  

Jesus sprach: „Wenn die, die euch führen, euch sagen: Seht, das Königreich ist im Himmel, so werden die Vögel des Himmels euch vorangehen. Wenn sie euch sagen: es ist im Meer, so werden die Fische euch vorangehen. Aber das Königreich ist in euch, und es ist außerhalb von euch. Wenn ihr euch erkennen werdet, dann werdet ihr erkannt, und ihr werdet wissen, dass ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid. Aber wenn ihr euch nicht erkennt, dann seid ihr in der Armut, und ihr seid die Armut.“ (Vgl. den Text des ganzen ThomEv ins Deutsche übersetzt hier. )

 

Dass im Thomasevangelium als Ganzem eine besondere Wertschätzung der Tiere ausgedrückt sein soll, kann ich nicht erkennen. Die biblischen Schriften selbst haben nach meiner Einschätzung keine besondere „Tier-Ethik“, wohl aber werden die Tiere als Teil von Gottes guter Schöpfung angesehen. An einigen Stellen dienen Sie auch als Bild, um den Menschen etwas zu verdeutlichen. In dieser Weise werden auch im Thomasevangelium beispielsweise an dieser Stelle Tiere in den Blick genommen: Sie weisen Menschen den Weg zu etwas, was als wichtig erachtet werden soll: Vögel treten als Experten des Himmels auf, Fische als die des Meeres.

 

Möglicherweise ist es dieses Bild, dass Tiere uns Menschen auf etwas hinweisen und dorthin vorangehen, Experten eines uns unzugänglicheren Lebensbereichs sind, was Sie im Blick auf Ihre persönliche Situation anspricht.

 

Zugleich zeigt das Logion etwas von den Grundzügen der Theologie des Thomasevangeliums: Zum festen Bestand seiner Themen gehört die Suche der Seele nach der Erlösung in verschiedenen Sphären der Welt. Dieser Weg ist gefährdet durch äußere, widerständige Mächte (so an anderer Stelle), oder – wie hier – durch die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, die als unzureichend charakterisiert werden.

 

Das Thomasevangelium greift auf Traditionen zurück, die teilweise denen unserer heutigen biblischen Überlieferung ähneln, deutet sie aber ganz eigenständig. Die Vorstellung, das Schicksal des Menschen und seiner Welt, und damit auch der Tiere, ihm selbst und seiner Erkenntnis anzuvertrauen, und nicht der göttlichen Gnade, hat sich meines Erachtens zurecht nicht durchgesetzt in unserer Tradition.

 

Herzliche Grüße

Ihre Friederike Erichsen-Wendt, Pfrin.