Wie gehen die Evangelien mit der Schuldfrage um?

Lena
Schuldfrage
© Iv Horton/Unsplash

Welche Intentionen haben die Evangelien mit der Schuldfrage gehabt? Inwiefern ist diese theologisch gerechtfertigt oder inwiefern erübrigt sie sich?

Liebe Lena,

Ihre Frage kann ich auf zwei Arten verstehen:

Es geht Ihnen entweder um die Frage, wer laut den Evangelien Schuld an Jesu Tod hat, oder es geht Ihnen um die Frage, ob Jesus für unsere Sünden gestorben ist.

Zur ersten möglichen Frage: Wer hat Schuld an Jesus Tod? Die Evangelien stellen es so dar, dass die amtierenden jüdischen Anführer in Jerusalem gemeinsam mit der staatlichen Obrigkeit für den Tod Jesu verantwortlich sind. Vereinzelte Mitglieder der jüdischen Oberschicht sahen in Jesus eine Gefahr, da sie religiöse Unruhen befürchteten. Der römische Staat verurteilte Jesus durch Pontius Pilatus schließlich zum Tod. Die Evangelien möchten damit aufzeigen, dass religiöse und weltliche Belange eng verflochten sind. Es geht quasi um eine "kollektive" Schuld an Jesu Tod. Übertragen meint das: "Wir" tragen Schuld an seinem Tod. Das gilt heute noch immer so.

Vorsichtig muss man sein, die Schuldfrage so zu lösen, dass die Schuld einseitig dem jüdischen Volk angelastet wird, denn dies führte in der Vergangenheit zu einem jahrhundertelangen Antisemitismus. Das ist so von den Evangelien aber nicht intendiert, die Gegenüberstellung von Christentum und Judentum gab es damals in der Trennschärfe noch nicht. Zwar wird eine Abgrenzung zum Judentum und eine Hinwendung zum Heidentum vorgenommen, dennoch ist klar: wir könnten uns heute genauso schuldig machen.

Zur zweiten möglichen Frage: Jesus ist durch seinen Tod für uns gestorben, für unsere Sünden. Jesus stirbt am Kreuz, damit Gott uns vergibt. Durch Jesus finden wir Gnade vor Gott, sind gerechtfertigt, erhalten das ewige Leben. Jesus muss also sterben, damit wir erlöst werden können (Mk 8,31). Ausformuliert sind die Gedanken des sogenannten Sühnetodes bzw. des Stellvertretungstodes vor allem bei Paulus. Die Evangelien gleichen in ihren Passionsgeschichten eher den jüdischen Märtyrerakten: Jesus stirbt für sein Ideal, für seinen Glauben. Das Thema der Sühne bzw. der Stellvertretung rückt hier eher in den Hintergrund (Mk 10,45). Bei Lukas beispielsweise bringt Jesus gesamter Lebensweg die Erlösung und Errettung. Weitere Informationen dazu finden sich beim Bibellexikon "Wibilex".

Das Verständnis von Jesu Tod als Sühnetod entstand kirchenhistorisch vor allem im Anschluss an Paulus, weniger auf Grundlage der Evangelien. Bei Paulus geht es um eine theologische Deutung von Jesu Tod, der nach damaliger Sicht ein Skandal war - er war nicht mit der Vernunft zu begreifen (1. Kor 1,18-31). Er sagt also, dass Jesus für unsere Sünden starb, damit wir das ewige Leben erhalten (Röm 3,21-31). Prominent wurde der Gedanke der Stellvertretung auch von Martin Luther aufgegriffen. In der "Freiheit eines Christenmenschen" spricht Luther von einem "fröhlichen Wechsel". Allein durch den Glauben werden wir in Jesus gerechtfertigt. Jesus' Gerechtigkeit wird uns als Menschen anerkannt, wir sind dadurch frei von Schuld im Hinblick auf das Reich Gottes.

Diese Art von Theologie in der Aufklärung, vor allem von Immanuel Kant, kritisiert. Daher wird heute von einigen Theologinnen und Theologen davon ausgegangen, dass Jesus Christus sich freiwillig für uns hingab. Sein Tod ist ein Akt der Liebe Gottes, ein Zeichen seiner Zuwendung und Gnade. Denn: Gott braucht kein Opfer, um versöhnt zu werden. Jesus ist in seinem ganzen Leben und Handeln ein Vorbild für uns, dem wir nachfolgen sollen.

Ganz gleich, ob Jesu Tod als Sühneopfer, als Stellvertretungshandlung oder als Selbsthingabe gedeutet wird, er bleibt - zusammen mit der Auferstehung - zentral für den christliche Glauben. Ich brauche ein unfehlbares Gegenüber, dass mich mit meinen Fehlern annimmt und liebt, dass mir diese Liebe zuspricht. Genauso diese Zusprache drückt sich im Tod Jesu aus.

Liebe Lena, ich hoffe, ich konnte Ihre Frage in aller Kürze beantworten,

bleiben Sie behütet,

Johanna Klee

 

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