Ist Gott eigentlich nach den Ereignissen der Bibel ins große Schweigen abgetaucht?

Christian Hofmann
Bibel blättert sich auf im Wind
© Jessica Delp/Unsplash

Hallo Frau Scholl,

ich interessiere mich sehr für Geschichte und die Bibel ist für jeden Christ ja durchaus wichtig. Die Sache dabei ist nur, dass die Bibel und deren Texte durchaus schon sehr alt sind. Es werden die Ereignisse geschildert mit dem Wissensstand von vor vielen tausenden Jahren. Dies muss ja nicht grundsätzlich schlecht sein, aber aus heutiger Sicht würde man doch vieles anders beschreiben als noch vor so langer Zeit. Es beginnt ja schon mit "Am ersten Tag schuf Gott Himmel und Erde". Aus der damaligen Sicht war das durchaus zutreffend. Aber heute da auch wir Christen ja die Theorie der Evolution nicht mehr anzweifeln, würde man vermutlich eher eine Formulierung wie "Zu Anfang wurden die Grundsteine zur Entwicklung des Menschen gelegt..." oder so ähnlich wählen. Dies würde ja in keinem Widerspruch stehen. Aber dies sollte nur das Problem zeigen. Vom heutigen Wissensstand wirkt die Bibel an vielen stellen im Wort doch sehr schwierig, obwohl die Botschaft ja weiterhin gültig ist. Nur eben aus heutige Sicht schwer verständlich.

Da es wohl schwierig ist die Bibel von der Wortwahl zu verändern. Da sie nun einmal so geschrieben wurde, stelle ich mir jedoch die Frage, was nach dem Zeitfenster in der Bibel so passiert ist. Gibt es dort Literatur die allgemein gültig empfohlen werden kann? Immerhin befinden wir uns im Jahre 2022 in einer ganz anderen Zeit. Auch wenn die Bibel als Grundlagenwerk wohl uneingeschränkt gültig ist, so ist für uns evangelische Christen ja viel passiert (für katholische ebenfalls). Die Geschichte der Kirche, die Reformation durch Luther die auch Vorgänger hatte wird in vielen Quellen gerne aufgearbeitet. Aber welche Quellen sind aus Sicht der Kirche die richtigen?

Leider habe ich als Christ so den Eindruck dass im Zeitraum der Bibel alles passierte und Gott danach im großen schweigen verschwand. Aber das wird ja nicht der Fall sein. Daher die Frage, welche Literatur, die aktueller ist, kann ich hier betrachten?

Lieber Herr Hofmann, 

herzlichen Dank für Ihre Frage. Toll, dass Sie sich so engagiert mit der biblischen Überlieferung auseinandersetzen. Das Thema, welches Sie aufwerfen ist interessant. In der Tat stellt sich ja die Frage, wenn wir die Bibel als Sammlung von Erfahrungszeugnissen von Menschen mit Gott und ihrem Glauben begreifen, warum dann nicht jede solcher später entstandenen Zeugnisse von Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen, per se auch zum Teil des biblischen Kanons wird. 

Die Kanonbildung der Bibel war im 4. Jahrhundert abgeschlossen. Beim Alten Testament war das schon früher der Fall. Im Hinblick auf das Neue Testament war es so, dass eine Reihe von Schriften und Briefliteratur in den Gottesdiensten gelesen wurden und im Laufe der Zeit versucht wurde das zu vereinheitlichen und so die Schriften im biblischen Kanon zusammenzufassen, die nach Meinung vieler am besten zur gemeinsamen Orientierung am christlichen Glauben dienten. Die Apokryphen beispielsweise, die heute noch in manchen Bibelübersetzungen mit abgedruckt sind, haben keinen Eingang in diesen Kanon gefunden, was aber nicht heißt, dass sie nicht auch wertvolle Zeugnisse enthalten. 

Wie sie richtig bemerkt haben, spiegelt sich der Horizont der jeweiligen Abfassungszeit in den biblischen Büchern. Als eine wissenschaftliche Beschreibung der Entstehung der Welt kann uns das erste Buch der Bibel heute kaum befriedigen. Es liefert uns aber einen unglaublichen Schatz an Anknüpfungspunkten für die Fragen, wo wir herkommen, was der Mensch ist und wie Gott ist, und das noch viele tausend Jahre nach seiner Abfassungszeit. 

Nun zu ihrer eigentlichen Frage, ob eigentlich im Zeitraum der Bibel alles passierte und Gott danach im Schweigen verschwand. Auf der Textebene der Bibel würde man ja zunächst einmal meinen, dass darin die ganze Weltgeschichte umgriffen ist. Der biblische Kanon reicht von der Entstehung der Welt bis in zum Buch der Offenbarung ganz am Ende des Neuen Testaments, wo die Endzeit zum Thema wird. Die Texte des biblischen Kanons sind so etwas wie das gemeinsame Gedächtnis von Christinnen und Christen. Es finden sich darin die Erzählungen, die gemeinsam immer weitererzählt werden und die einen gemeinsamen Bezugsrahmen und eine gemeinsame Identität bilden. 

Das heißt nun aber nicht, dass alles, was nach der Abfassung der biblischen Bücher geschehen ist und alle Erfahrungen, die Menschen mit ihrem Glauben und mit Gott machen, nicht mehr relevant wären. Eine interessante Perspektive darauf, wie sich solche Erfahrungen zu den biblischen Zeugnissen verhalten, liefert Friedrich Schleiermacher, ein Theologe des 19. Jahrhunderts. 

Für Schleiermacher stellt sich das so dar, dass Menschen in den biblischen Schriften dem, was sie von Gott erfahren haben und spüren, Ausdruck verleihen. Dies geschieht heute noch genauso wie zur Entstehungszeit der biblischen Bücher. Wenn nun heute jemand die Bibel liest, wird das eigene Bewusstsein von Gott in demjenigen der liest angeregt und er beginnt selbst seine ganz individuellen Erfahrungen zu deuten im Licht der biblischen Geschichten. Vielleicht drückt dieser Mensch seine eigenen Erfahrungen dann im Malen eines Bildes oder im Schreiben eines Gedichts aus. All dies können dann auch Zeugnisse von Glaubenserfahrungen sein. Schleiermacher geht letztlich so weit, den biblischen Kanon als offenen Kanon zu betrachten und nimmt damit ernst, dass sich ja die Frage der Kanonbildung des 4. Jahrhunderts, also welche Erzählungen für das Glaubensleben von Christinnen und Christen anregend und relevant sind, bis heute immer wieder stellt. 

Der Kanon in der Gestalt wie wir in kennen bleibt wichtig, als gemeinsamer Bezugspunkt, als kollektives Gedächtnis mit all den Symbolen, die wir als Christinnen und Christen miteinander teilen können. Aber er steht inmitten einer unausschöpflichen Vielzahl von Erfahrungen, die Menschen jeden Tag machen und auf Gott beziehen. Wenn Sie Morgen den Gipfel eines Berges besteigen, über die weite Landschaft schauen und dabei plötzlich Gottes Nähe ahnen, dann ist dies ebenso eine relevante Erfahrung, wie sie Menschen zu biblischen Zeiten mit Gott machen. Mir hilft die Bibel dabei, solchen eigenen Erfahrungen näher nachzugehen und mehr von Gott zu verstehen, von dem ich hier und da im meinem Leben etwas ahne. 

Sie sehen, Gott ist keineswegs ins Schweigen abgetaucht in nachbiblischen Zeiten. Überlegen Sie doch mal, wo Sie Gottes Nähe erleben und welche biblischen Geschichten es für Sie sind, bei deren Lektüre diese eigenen Erfahrungen besonders anklingen. 

Ich hoffe, mit meiner Antwort konnte ich Ihnen ein wenig weiterhelfen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie weiter so nachdenklich bleiben und mit so engagiert ihren Fragen nachgehen, wie in ihrer Frage. Gottes Segen wünsche ich Ihnen dabei. 

Herzlich

Katharina Scholl

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