Familienbild

Frank Schöttler

Sehr geehrter Herr Muchlinsky,

mit Erstaunen habe ich das Bekenntnis der EKD "man müsse mit der Zeit gehen", sich also dem Zeitgeist anpassen, zur Kenntnis genommen. Sollen sich Christen nicht am Wort Gottes ausrichten, welches zeitlos ist? Darauf hat sich schon Luther bezogen, als er den damaligen Zeitgeist der römisch-katholischen Kirche kritisierte. So wäre es z.B. interessant wo das Gebot "der Mann soll nicht beim Manne liegen" (Lev 18,22) aufgehoben wurde.

Mit freundlichen Grüßen

Frank Schöttler

Sehr geehrter Herr Schöttler,

 

Ihr Erstaunen verdankt sich meiner Ansicht nach einem Missverständnis. Das Wort Gottes ist nicht zeitlos, es ist vielmehr ewig. Wenn es aber ewig ist, dann muss es in jeder Zeit, in der wir Menschen es hören, unserer Zeit angemessen ausgelegt werden. Das hat das Christentum immer getan – mit den Methoden der jeweiligen Zeit, mit den Themen der jeweiligen Zeit und mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit.

In der Frühzeit des Christentums waren familiäre Bande ein großes Hindernis auf dem Weg zum wahren Glauben. Im Mittelalter waren Frauen Gefäße des Teufels, weil sie Männer zu verführen in der Lage waren, und was tut der Teufel anderes, als Menschen zu verführen? Im 19. Jahrhundert wurde die Familie heilig. Im 20. Jahrhundert wurden die ersten Pfarrerinnen ordiniert…

 

Das Wort Gottes erhebt an keiner Stelle der Bibel den Anspruch, immer auf dieselbe Weise gelesen zu werden. Vielmehr will sie ausgelegt sein, damit sie sozusagen aus der Ewigkeit in die Gegenwart sprechen kann. Nur so kann die Bibel immer wieder lebendig werden. Wäre Gott in der Ewigkeit geblieben, hätte er sich den Menschen nicht offenbaren können. Er musste in die Zeit kommen.

 

So verhält es sich natürlich auch mit den Vorschriften, die in der Bibel stehen. Das Christentum hat gleich nach seiner Entstehung damit angefangen, biblische Vorschriften so auszulegen, dass sie mit dem eigenen Leben vereinbar sind. Und der Geist, der für diese Auslegungen in Anspruch genommen wurde, war nicht etwa der Zeitgeist, sondern der Heilige Geist!

 

Der Vorwurf, jemand würde sich nach dem Zeitgeist richten, ist schnell ausgesprochen. Man sagt damit aus, jemand würde sich nach einer allgemeinen Stimmung richten und damit größere Werte verraten, die länger gültig sind. Doch ist dieser Vorwurf in den meisten Fällen lediglich eine Festlegung vom eigenen Standpunkt aus: Ich erhebe meine Werte zu zeitlosen und nenne die Werte meines Gegners flüchtig. Wenn ich nun aber anschaue, welche Werte hinter der Handreichung der EKD stehen, so erkenne ich ein sehr großes Maß an Nächstenliebe. Diese aber ist sicherlich kein flüchtiger Wert für das Christentum. Der Streit, den die Handreichung ausgelöst hat, beruht auf der Frage, ob das Gebot der Nächstenliebe so ausgelegt werden darf, dass es in Konflikt kommt mit dem Gebot, das Sie in Ihrem Brief zitieren.

 

Die Orientierungshilfe hat diesen Schritt gewagt und hat damit das Familienbild des 19. Jahrhunderts als zeitbedingt eingestuft und damit in der Tat abgewertet. Das tut natürlich auch weh, besonders, wenn man selbst dieser Form von Familie einen hohen Wert beimisst. Doch bereitet es denen auch große Freude, denen gesagt wurde, dass sie nun ganz dazugehören dürfen.

 

Als am 1. September 1958 Elisabeth Haseloff als erste Frau zur Pfarrerin Deutschlands ordiniert wurde, war es wohl ähnlich: Auf der einen Seite eine große Freude, dass dieser Schritt nun endlich vollzogen wurde, auf der anderen Seite eine große Empörung, weil die Frau in der Gemeinde doch nach wörtlicher Interpretation der Bibel zu schweigen habe (1. Kor 14,34). Ich kann mir gut vorstellen, dass 1958 Fragen gestellt wurden wie diese: "Seit wann gilt denn Gottes Wort nicht mehr?" Mittlerweile ist es für uns evangelische Christinnen und Christen in Deutschland selbstverständlich, dass wir Frauen nicht nur ordinieren, sondern auch zu Bischöfinnen wählen.

Übrigens war die erste Ordination einer Frau 1958 auch eine Reaktion der Kirche auf das einige Monate (am 18.Juni 1958) vorher verabschiedete Gesetz "zur Gleichberechtigung von Mann und Frau" in der Bundesrepublik. Das würde den Vorwurf nahelegen, die Kirche sei damals lediglich dem Zeitgeist gefolgt. Vielmehr war es damals so wie heute: Wir legen die Heilige Schrift aus, damit sie nicht nur ewig bleibt, sondern in unserer Zeit frohe Botschaft werden kann.

 

Mit freundlichen Grüßen

Frank Muchlinsky