Ein Bibeltext mehrere Auslegungen - Woran kann ich glauben?

Susanne
Bibelauslegungen und Interpretationen sind  vielfältig
©Maciej Karon/Unsplash

Hallo Herr Muchlinsky,

wie Sie aus mancher Frage von mir schon wissen, forsche ich sehr gerne in der Bibel und mache mir so meine Gedanken über die einzelnen Texte. Einfach, weil ich das, was ich verstanden habe, besser glauben kann. So etwa wie ein "AHA-Erlebnis im Glauben." Nun habe ich Ihre letzte Folge aus der Reihe: "AHA - Glaubensfragen zum nachhören: Die Bibel richtig lesen!" schon mehrmals angehört. Aber je öfter ich das Interview höre, um so mehr verwirrt es mich, und das mit der Bibel wird mir alles etwas unübersichtlich. Irgendwo muss es doch eine klare Linie geben bei der Auslegung der Bibeltexte.

Wenn ich mir bei meinen "Forschungsreisen durch die Bibel" so meine Gedanken mache, spielt auch immer ein stückweit meine "blühende" Fantasie eine Rolle. Aber das, was zum Schluss meiner Gedanken raus kommt, erscheint mir manchmal fantasievoll, aber doch eine Möglichkeit zum Verstehen des Textes zu sein. Nun kommt ein Anderer und erzählt mir seine Gedanken zum gleichen Text, die aber ganz anders ausfallen als meine Interpretation.

Und doch können auch die Gedanken eine Möglichkeit sein, den jeweiligen Text zu analysieren. Aber woran soll ich dann noch glauben, bei mehreren logischen Auslegungen und Gedanken?

Viele Grüße Susanne

Liebe Susanne,

schön, dass Sie so fleißig lesen – und anscheinend auch hören! Ihre Frage kann ich gut nachvollziehen, denn wir sind es durchaus gewohnt, dass wir davon ausgehen, dass ein bestimmter Text auch eine bestimmte Botschaft hat. Wenn Sie jemandem sagen: "Ich gehe eben Brötchen kaufen," so wird die angesprochene Person sie nach einer gewissen Zeit mit Brötchen zurückerwarten. Je nachdem, wie gut die Person Sie kennt und die Umgebung, in der Sie sich bewegen, wird er einschätzen können, wann Sie wohl zurück sind. Nehmen wir an, Sie haben einen Bäcker gleich um die Ecke, und es ist gerade ein Werktag. Nehmen wir weiterhin an, dass Sie vor den Augen des Menschen, dem Sie ihren Satz gesagt haben, Geld eingesteckt haben, nehmen wir auch noch an, dieser Mensch weiß, dass Sie bereits Hunger haben, dann wird dieser Mensch vermuten, dass es sich nur um Minuten handeln wird, bevor Sie wieder da sind – bepackt mit frischen Brötchen und bereit, diese zu verspeisen.

Nehmen wir aber nun an, Sie schreiben Ihre Nachricht auf einen Zettel. Sie legen ihn jemandem, der noch schläft, auf den Nachttisch. Die Person liest ihn, freut sich auf das Frühstück, und weil sie die Nachricht so schön findet, steckt sie ihn in die Hosentasche als Erinnerung. Nach Wochen fährt die Person in den Urlaub in eine einsame Gegend. Dort verliert sie diesen Zettel und der Wind trägt die Nachricht "Ich bin eben Brötchen kaufen" in eine Hecke. Dort findet sie eine andere Person. Was, meinen Sie, wird sie aus der Nachricht erfahren können? Ihr stehen sehr viele Möglichkeiten offen, aber nicht unbegrenzt viele.

Sie kann mit großer Sicherheit annehmen, dass da eine Person einer zweiten, die gerade nicht mündlich erreichbar ist, mitteilen wollte, dass sie bald wieder mit Person Eins rechnen kann. Aber geht noch mehr? Der Finder des Zettels weiß nicht, ob Person Eins tatsächlich jemals Brötchen holen ging, oder das nur vorgab. Wann und wo sich das Ganze abspielte, weiß der Finder auch nicht. War der Zettel an eine Gruppe oder eine Einzelperson gerichtet? Ist die Nachricht vielleicht gar ein Code, mit dem zwei Spione sich verständigten, oder mehrere Gangster? Es gibt sicherlich Tausende von Geschichten, die man aus diesem gefundenen Zettel machen könnte.

Und nun kommt ein wichtiger Punkt: Je nachdem, wer Ihren Zettel findet, wird die Interpretation ausfallen, die diese Person macht. Kommt jemand, der in der verlassenen Gegend wohnt, in der er den Zettel findet, wird er sich vorstellen, wie jemand diesen Zettel schreibt, um dann einen langen und vielleicht beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen – nur um Brötchen zu holen. Dabei hat es Sie vielleicht nur drei Minuten gekostet. Wer auch immer den Zettel findet und jemals Brötchen gekauft hat, wird sich einen bestimmten Bäcker vorstellen, oder eine Tankstelle, weil man zuletzt mitten in der Nacht dort Brötchen kaufte. Der Text, den Sie produziert haben, wird also zwangsläufig von jedem Leser und jeder Leserin auf deren eigene Weise interpretiert.

Letztlich ist nur die eine Geschichte "wahr", denn Sie haben den Zettel in einer bestimmten Situation an eine bestimmte Person, in einer bestimmten Absicht geschrieben. In der Bibelauslegung hat man nun sehr lange Zeit versucht, möglichst nah an diese eine Situation heranzukommen. Dabei hat man übersehen, dass man nichts anderes als der Finder eines Zettels ist. Selbst der Mensch, für den Sie Ihre Nachricht geschrieben haben, konnte aber nur ahnen, was Sie haargenau wollten, als Sie die Nachricht schrieben. Und diese Person – so nahmen wir an – kannte Sie sehr gut!

Die Bibel ist ein Text – ein wesentlich längerer als die Notiz von eben, aber sie bleibt ein Text. Die Auslegung der Bibel hat im Laufe der Jahrhunderte viele verschiedene Wege eingeschlagen. Meistens war sie von der Idee getrieben, den einen Ursprungssinn zu rekonstruieren, die Ursprungsintention. So haben auch wir in der Schule Textinterpretation gelernt, unter dem Moto: "Was will uns der Autor damit sagen?" Nun hat sich aber seit ein paar Jahrzehnten in der Literaturforschung ein anderer Ansatz entwickelt, der auch in der Bibelinterpretation Fuß gefasst hat. Dieser Ansatz fragt nicht nach der Intention des Autoren eines Textes. Stattdessen fragt man nach den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des biblischen Textes, weil dieser – wie jeder andere Text auch – interpretiert werden muss.

So kommt es dazu, dass der Autor des Textes und seine Situation an Bedeutung verlieren und gleichzeitig die Situation und die Person des Lesers/der Leserin an Bedeutung zunehmen. Diese Art der Interpretation nennt man Rezeptionsästhetik. (Ich setze hier einen Link ein, der zum entsprechenden Artikel im Wissenschaftlichen Bibellexikon (WiBiLex) führt.)

So entsteht der Sinn eines Textes eben in seiner Rezeption, in seinem Lesen. Das entspricht im Grunde genommen dem, was Sie von Ihrer Bibellektüre schildern. Sie lesen in ihrer Situation, als die Person, die Sie sind, den Text und geben ihm einen Sinn.

Sie fragen, woran Sie glauben sollen, wenn es verschiedene Interpretationen gibt. Nun, glauben Sie doch weiterhin daran, dass die Bibel etwas sagen kann. Warum sollte sie jedem nur eine einzige Botschaft zu geben haben? Wir haben uns doch auch verändert. Wir leben in einer vollständig anderen Welt als die Autoren der Bibel. Wenn wir glauben, dass die Bibel ein Buch ist, das göttliche Offenbarung enthält, dann muss sie auch in der Lage sein, uns zweitausend Jahre nach ihrer Entstehung einen Sinn zu vermitteln. Wenn Sie einen finden, dann ist es gut! Und wenn Sie merken, dass andere vielleicht einen anderen Sinn entdecken, dann tauschen Sie sich aus. Die Bibel wird nur reicher und reicher dadurch.

Sie merken, hier schlägt mein Herz. Ich hoffe, ich konnte Ihnen – trotz der Länge meiner Antwort – deutlich machen, was ich meine. Aber Sie sind eben die Person, die meinem Text einen Sinn gibt – und nicht ich selbst als der Autor.

Herzliche Grüße!

Ihr Frank Muchlinsky

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