Moralische Probleme

Zweiflerin

Sehr geehrter Herr Muchlinsky,

 

ich wäre gern richtiger Christ, habe aber große Probleme, mich an die einschlägige Moral zu halten. Ich verstehe, dass es die Gebote gibt, um das zwischenmenschliche Zusammenleben positiv in gegenseitiger Rücksichtnahme zu gestalten und finde das natürlich sinnvoll. Es gibt jedoch einige Punkte, die ich nicht einsehe und kurz zusammenfassen möchte:

Ich verstehe nicht, dass Tierquälerei, z. B. in Form von Massentierhaltung, nicht mehr seitens der Kirche kritisiert wird. Wir Menschen sind doch für die Tiere verantwortlich und fügen ihnen so erhebliches Leid zu.

 

Gleichzeitig finde ich, dass die Kirche vieles "verbietet", was meiner Ansicht nach gar nicht so schlimm ist, vor allem im Bereich der Sexualität, z. B. Verhütung und Homosexualität. Damit schadet man doch niemandem. Auch mit dem Verbot des Ehebruchs habe ich meine Probleme: Ich sehe ein, dass es schlimm ist, wenn der Partner fremdgeht. Das wünsche ich niemandem. Ich finde es auch verwerflich, dass die meisten Menschen allein aus der Motivation ihrer sexuellen Befriedigung heraus fremdgehen. Aber was ist denn, wenn jemand verheiratet ist, jemanden kennenlernt (zunächst ohne Absichten) und sich dann verliebt, also wirklich emotionale und zwischenmenschliche Gefühle entstehen. Ich denke, dann sollte man ehrlich sein zu seinem Partner und ggf. entsprechende Konsequenzen ziehen, jedoch nicht betrügen (erst recht nicht langfristig). Aber ist dann, mit Eintritt entsprechender Gedanken, nicht die Ehe schon gebrochen? Und kann man da von Schuld sprechen? Wenn man seine Gedanken dann kontrollieren soll, frage ich mich, ob das möglich und ratsam ist. Und was gilt, wenn man sich zu einer verheirateten Person hingezogen fühlt, weil man tatsächlich eine enge Verbindung zueinander hat. Daran kann man ja nichts ändern.

 

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch; ich bin ein sehr liebevoller und fürsorglicher Mensch mit wenig Egoismus. Ich zweifele nur daran, dass manche Moralvorgaben tatsächlich für ein friedliches Miteinander sorgen. Gleichzeitig fügen wir einander viel Schaden zu durch Verhaltensweisen, die für die Kirche relativ irrelevant sind (s. Tiere).

 

Und noch eine Frage: Es gibt so viele Religionen auf der Welt, wie kann ich denn sicher sein, die Richtige zu haben? Was ist denn, wenn ich darauf hoffe, dass Jesus mir meine Sünden vergibt, ich sterbe und es dann doch nicht so ist? Davor habe ich Angst.

Herzlichen Dank für Ihre Antwort
Zweiflerin

Liebe Zweiflerin,

 

Sie haben in der Tat recht: Die Gebote sind dazu da, dass wir unser Miteinander regeln. Das gilt sowohl für das Miteinander unter uns Menschen als auch für das Miteinander zwischen uns und Gott und – ja auch für unser Verhältnis zur gesamten Schöpfung, also auch zu den Tieren und allem Leben, das mit uns diese Welt teilt. Aus dem, was die Bibel uns überliefert, haben sich die verschiedensten kirchlichen Ethiken und Moralvorstellungen entwickelt. An einigen von denen kann man als modernen Mensch schlicht verzweifeln. Die Haltung der katholischen Kirche zur Empfängnisverhütung ist vielen Menschen (und Ihnen anscheinend auch) ebenso fremd wie die generelle Ablehnung von Homosexualität, wie sie kirchlicherseits immer noch häufig vorkommt.

Allerdings hat gerade die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) jüngst eine Orientierungshilfe veröffentlicht, für die sie eine Menge Schelte eingesteckt hat. Der Grund ist, dass sich die EKD dafür ausspricht, die verschiedenen Formen des liebevollen Zusammenlebens ebenso wertvoll sein können, wie die "klassische" Ehe. (Wenn Sie einmal schauen mögen: Hier gibt es eine Zusammenfassung der Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken")

 

Ich führe dieses Beispiel an, weil ich Ihnen gern deutlich machen möchte, dass sich die Kirche und Ihre ethischen Aussagen ebenso verändern, wie es die Gesellschaft selbst tut. Manchmal dauert es vielleicht ein wenig länger, manchmal ist die Kirche aber auch Vorreiterin für neue ethische Maßstäbe. Gerade wenn es um den guten Umgang mit der Schöpfung geht, ist die Kirche seit vielen Jahrzehnten ganz vorn mit dabei, wenn schlimme Verhältnisse anzuprangern sind und neue Wege gesucht werden.

Was Ehe und Sexualität angeht, so haben viele in unseren Kirchen – wie eben sehr große Teile unserer Bevölkerung überhaupt – Wertevorstellungen, die dem bürgerlichen Leben des 19. Jahrhunderts entstammen. Ich will das nicht als "überholt" darstellen, sondern ich möchte deutlich machen, warum wir zum Beispiel eine scheiternde Ehe als großes Unglück betrachten.

 

In dem was Sie, liebe Zweiflerin, schreiben, steckt eine Menge von dem, was – nicht zuletzt die evangelische Kirche – immer wieder tut: Wir fragen uns, ob nicht die allzu strenge Beachtung des einen Gebotes ein anderes (vielleicht sogar wichtigeres) Gebot verletzt. Wen ich mich sklavisch daran halte, eine Ehe nicht auseinandergehen zu lassen, werde ich vielleicht eher Leid über mich und andere bringen als einen Segen. Das ist freilich kein Freibrief für "Ehebruch", aber es geht in die Richtung, die Sie andeuten: Was, wenn man sich verliebt? Was, wenn man unglücklich in seiner Beziehung ist? Ist es dann besser, auszuprobieren, ob es nicht doch noch geht? Das scheint mir eine gute Idee zu sein. Ist man immer noch verpflichtet, beieinander zu bleiben, selbst wenn die versuche scheitern? Ich denke, das wird schon schwieriger. Wenn aber wirkliches Unglück eine Beziehung dauerhaft belastet, dann sollten wir keinen Zwang ausüben – weder gesellschaftlich noch kirchlich.

 

Lassen Sie mich noch auf Ihre letzte Frage eingehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir alle – jeder Mensch – uns nach unserem Tod vor Gott wiederfinden werden. Meinem Glauben nach werden wir uns für vieles gerade stehen müssen. Aber wir haben die feste Zusage, dass uns unsere Zweifel ebenso vergeben werden, wie alles andere. Mit welchem Namen wir Gott ansprechen, wird dabei keine Rolle spielen.

 

Ob ich Ihnen ein wenig weiterhelfen konnte? Ich hoffe es und grüße herzlich!

Ihr Frank Muchlinsky