Hallo,
In der hebräischen Bibel kommt es ja häufig vor, dass Gott zornig ist und das Töten vieler Menschen (ganzer Städte oder Völker) befiehlt oder auch Menschen selbst tötet. Im Neuen Testament tritt Gott nicht mehr so auf. Hat sich Gott entwickelt und ist er liebevoller geworden? Oder sind die Beschreibungen in der hebräischen Bibel nur von den Schreibern falsch übermittelt und Gott war gar nicht so? Oder ist es noch anders? Ich lese dies Jahr die Bibel ganz durch und die Fragen beschäftigen mich, kannte ich Gott vorher doch eher als liebenden Gott und bin nun durch das Bibellesen verwirrt.
Gruß Anne mit Dank
Liebe Anne,
die Frage, die Sie stellen, haben sich schon viele Menschen gestellt. Auch wir haben sie hier im Fragenbereich immer wieder in ähnlicher Form beantwortet. Wer als Christenmensch beschließt, die Bibel einmal von vorn bis hinten zu lesen, geht an diese Lektüre mit einer bestimmten Voraussetzung heran: Christenmenschen sind in der Regel davon überzeugt, dass Gott der liebevolle Vater ist, von dem Jesus gern und oft erzählt. Man wächst mit den entsprechenden Gleichnissen und Geschichten auf. Der Vater der den verlorenen Sohn wieder in die Arme schließt, der Hirte, der 99 Schafe zurücklässt, weil eines sich verlaufen hat. Jesus, der sich mit anderen Gelehrten anlegt, weil er am Sabbat eine Frau heilt. Jesus, der sagt, liebt eure Feinde! Verzeiht immer und immer wieder! Auch wenn wir nicht im Kindergottesdienst waren, so ist das doch sozusagen das Grundverständnis, das den Christenmenschen vermittelt wird. Wir gehen einfach davon aus, dass Gott so gemeint ist. Wenn man mit diesem Bild im Hinterkopf anfängt, die Bibel von vorn nach hinten zu lesen, wird man zwangläufig bald feststellen, dass Gott auch ganz andere Seiten hat, als man dachte. Und wie Sie wird man vielleicht denken: Im Neuen Testament ist Gott doch viel liebevoller. Hat sich Gott verändert?
Aber so ist es nicht, denn Gott ist in beiden Teilen der Bibel ein ausgesprochen leidenschaftlich liebender Gott. Gott rettet die, die sich zu ihm halten, selbst wenn das bedeutet, dass zum Beispiel die ägyptischen Soldaten ertrinken, weil sie die Israeliten töten wollten. Und Gott ist mit seinem Volk immer wieder extrem langmütig und verzeiht immer wieder, wenn es sich von ihm abwendet. Und wie Gott im Alten Testament seine extrem liebevollen Seiten hat, so zeigt er auch im Neuen Testament, wie zornig er sein kann. Im Gleichnis von der "königlichen Hochzeit" (Matthäus 22,1-14) vergleicht Jesus das Reich Gottes mit einem König, der zur Hochzeit seines Sohnes einlädt. Die Eingeladenen kommen aber nicht, einige von ihnen verspotten die Knechte des Königs und töten sie sogar. Daraufhin schickt der König seine Soldaten aus. Die töten die Mörder und verbrennen ihre Stadt. Dieses Gleichnis ist ebenso ein Teil unserer Tradition wie die Offenbarung des Johannes, in der der Seher Johannes von seinen Visionen erzählt, dass Gott in einem großen Kampf die ganze Welt untergehen lässt, um endlich am Ende diejenigen, die an ihn glauben, zu retten.
Insgesamt kann man also sagen: Es ist ganz gleich, was wir lesen, wir bringen immer eine bestimmte Brille mit, durch die wir schauen. Wenn wir denken, Gott müsse doch immer lieb sein, werden wir alle Stellen, an denen es anders dargestellt wird, als merkwürdig wahrnehmen. Dann sollte man sich damit auseinandersetzen und sich fragen, was man mit dem erweiterten Bild anfängt. Wie geht man damit um, dass Gott so UND so ist? Der falsche Weg wäre es, die Stellen, in denen Gott meinem Bild nicht entspricht, entweder in Frage stellen, oder sie einfach zu ignorieren. Die Bibel ist nicht so geschrieben worden, wie Sie sie jetzt lesen: Von vorn nach hinten. Sie ist zusammengesetzt aus vielen einzelnen Teilen, die von vielen Menschen mit ganz unterschiedlichen Gotteserfahrungen geschrieben wurden. Und das auch noch über Jahrhunderte hinweg. Man könnte sagen: Nicht Gott hat sich verändert, aber die Erfahrungen die die Menschen mit Gott gemacht haben, sind immer wieder neu. Darum ändern sich die Erzählungen immer wieder.
Darum lautet mein Rat an Sie: Machen Sie sich beim Lesen der Bibel immer wieder klar, dass hier Menschen ihre Erfahrungen mit Gott aufgeschrieben haben! Und wenn Sie das können, fragen Sie sich dabei: "Kann ich in diesem bestimmten Text erkennen, warum jemand ihn als frohe Botschaft aufgeschrieben hat?" Manchmal gelingt das auch bei Texten, die einem zunächst als schwer erscheinen. Manchmal erscheint es aber auch unmöglich. Beides ist okay.
Ich hoffe, ich konnte ein wenig helfen.
Herzliche Grüße
Frank Muchlinsky