Sehr geehrter Herr Pastor,
ich stehe meiner Präsentationsprüfung im Fach Religion bevor und hätte da ein paar Fragen an Sie.
Meine Leitfrage ist, ob die christliche Erziehung in einer zunehmend säkularen Welt noch Impulse setzen kann. Ich würde Sie hierbei gerne um eine begründete Meinung bitten. Mir ist sehr wohl bewusst, dass Kinder Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Menschen und Kulturen durch die christliche Erziehung lernen, aber können Kinder das nicht auch durch eine nicht religiöse Erziehung lernen?
Vielen Dank im Voraus!
Liebe Heike,
Religiöse Erziehung von Kindern ist nicht dazu da, den Kindern Toleranz und Offenheit nahe zu bringen – zumindest ist das nicht das oberste Ziel religiöser Erziehung. Sie haben nämlich Recht: Dazu bräuchte es nicht unbedingt eine religiöse Erziehung. Vielmehr geht es darum, Kindern einen Raum zu geben, in dem sie ihre Beziehung zur ihrer Religion leben und vertiefen können. Eine evangelische Kindertagesstätte zum Beispiel sollte ein Ort sein, an dem zum Beispiel die christlichen Feste gefeiert werden und ihre Bedeutung vermittelt wird. Solch eine Kita sollte den Kindern möglich machen, ihre religiösen Fragen auszusprechen: Wo komme ich her und wo gehe ich hin? Wer bin ich und wer darf ich sein? Wer ist Gott? Und ja, auch: Warum soll ich andere gut behandeln?
Toleranz und Offenheit sind die logischen Konsequenzen aus einem gelebten Glauben, aber ebenso sind es Mitleid, Gelassenheit, Fröhlichkeit, Dankbarkeit, Neugier, Vertrauen und so weiter und so fort. All das sind, wenn Sie so wollen christliche Tugenden. Ich will hier nicht behaupten, dass eine nicht-religiöse Erziehung auch dazu führen kann, dass sich en Mensch dahin entwickelt. Das Christentum aber versteht Bildung (und darum auch Erziehung) als einen Entwicklungsprozess auf ein bestimmtes Ziel hin, das von seinem besonderen Menschenbild vorgegeben wird.
Der Mensch ist, nach christlich-biblischem Verständnis nämlich zum einen Geschöpf, das heißt, er ist nicht unbeschränkt, sondern begrenzt. Er macht Fehler und ist darum grundsätzlich auf Vergebung angewiesen. Zum anderen ist der Mensch nach dem christlichen Verständnis ein Ebenbild Gottes, das heißt, er ist begabt, kann denken, selbst schöpferisch tätig sein, kann mit Gott selbst reden und soll sich nun – und das ist das besondere – danach ausrichten, dass er seiner Ebenbildlichkeit Gottes entspricht. Wir sind wir Gott geschaffen, und darum sollen wir dieser Ähnlichkeit auch entsprechen. Christliche Erziehung ist Erziehung mit dem Ziel, dass wir Gott immer ähnlicher werden, indem wir zum Beispiel verzeihen, wenn der menschliche Verstand uns sagt: Nein, das kann man nicht mehr verzeihen. Oder dass wir vertrauen, selbst wenn unser menschlicher Verstand sagt: Der oder die verdient kein Vertrauen mehr.
Insofern ist die Bandbreite dessen, was religiöse Erziehung vermag, sehr viel größer als die Vermittlung von Offenheit und Toleranz. Sie will Menschen und Gott näher zusammenbringen.
Ich weiß, dass das hier nur ein Ausschnitt sein kann von dem, was in Ihrer Prüfung eine Rollespielen wird, aber ich hoffe, dass ich Ihnen eine Richtung geben konnte, in der es sich für Sie lohnt weiterzudenken und zu -forschen.
Ich grüße herzlich!
Frank Muchlinsky