Liebe Fragestellerin,
lieber Fragesteller,
kurz vor dem Reformationstag stellen Sie die Frage aller Fragen: Wann wachen unsere Kirche und wir, die Gläubigen, aus dem Schlaf der Sicherheit auf? Im Laufe meines 35 jährigen Berufslebens als Pastor unserer evangelischen Kirche, höre ich diese Frage seit 35 Jahren. In dieser Frage höre ich immer auch einen Vorwurf: "Unsere Kirche kümmert sich um alle möglichen Themen, Menschen, Probleme, Fragestellungen aber sie vergisst mich, den einzelnen Menschen mit all den Sorgen und Nöten, die mich plagen." Ich will solchen Empfindungen nicht widersprechen. Ihrer Frage will ich auch nicht ausweichen. Martin Luther hat für uns festgehalten: Die Kirche bleibt immer reformbedürftig. Darin stimmt der Reformator Ihnen zu. Mit Blick auf den Reformationstag weitet er aber den Blick: Für Luther steht nicht „die Kirche“ im Mittelpunkt seiner theologischen Überlegungen, auch nicht deren organisatorische Reform, sondern Reformation ist für ihn die Entdeckung der Rechtfertigungslehre.
Rechtfertigungslehre thematisiert Gottes verschwenderische Liebe. Diese Liebe äußert sich in der Hingabe Jesu Christi, in seiner uneigennützigen Zuwendung zu den Leidenden, in seiner Rede vom Himmelreich Gottes, in dem den Schuldigen Gnade widerfährt und denen, die die Freiheit suchen, eine neue Weite geschenkt wird. Das Sterben Jesu Christi macht diese Zuwendung eindeutig. Am Kreuz wird sichtbar, wie nah uns Gott kommt, er identifiziert sich rückhaltlos mit unserem Leid. Rechtfertigungslehre spricht also nicht über die Leistungsfähigkeit oder Fehlbarkeit oder gar den Irrwahn der Kirche und der Menschen, sie orientiert sich an Gottes selbstlosem Handeln. Hier beginnt das Aufwachen des glaubenden Menschen.
Die Erkenntnis, dass Gottes liebende Fürsorge die fest geschlossene - asphaltdicke - Decke meiner und unserer persönlichen Schuld durchdringt, er uns gut macht, steht in der Mitte des Reformationstages. Häufig handelt Gott "trotzdem". Obwohl ich immer so war, wie ich immer bin und nie wirklich sein wollte, wie Gott mich erdacht hat, hält er seine Gnade für uns vor. Seine Gnade durchdringt selbst hartnäckige Widerstände gegen Gottes Wirken.
Ich bin davon überzeugt, dass Sie, wenn Sie den Gemeindebrief Ihrer Kirchengemeinde lesen oder den Schaukasten an Ihrer Kirche genau beachten, sehen das Ihre Kirche genau das lebt und predigt, was Ihnen an ihr zu fehlen scheint. Bitte geben Sie Ihrer Kirchengemeinde eine Chance und besuchen einen Gottesdienst, hören gute Musik, folgen den Aktivitäten der Diakonie und lassen sich überraschen: Das Herz des Glaubens schlägt in Ihrer Kirchengemeinde, in Ihrem Kirchenkreis und Ihrer Landeskirche. Viele Aktivitäten in unserer Kirche zeigen: Jesus ist in Wort und Tat - gerade auch heute - an der Seite der suchenden und geplagten Menschen.
Die Thesen, die Luther am 31. Oktober 1517 an die Tür zur Schlosskirche schlug, enthalten einen Satz, der das Werk der Liebe Gottes mit uns, den Menschen, verbindet: "Durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe, und der Mensch wird besser." Wir beide sind in dieses Wachstum eingeladen,
freundliche Grüße von Ihrem Henning Kiene