Im Katholischen Gottesdienst heißt es nach der Bibellesung aus dem AT: "Wort des lebendigen Gottes." Die Gemeinde antwortet darauf mit: "Dank sei Gott dem Herrn." Nach der Lesung aus dem Evangelium im NT heißt es: "Evangelium unseres Herrn Jesus Christus." Die Gemeinde antwortet darauf mit: "Lob sei dir Christus." Nun zu meiner Frage: Haben die Katholiken ein anderes Bibelverständnis als wir Evangelischen Christen? Wird die Bibel in der Katholischen Kirche als das wortwörtliche Wort Gottes verstanden?
Herzliche Grüße Susanne
Liebe Susanne,
Die Rahmenformeln dienen dazu, das Bibelwort von der Auslegung bzw. Predigt abzusetzen und ihm besonderen Rang zuzuweisen. Mit anderen Worten: Nicht das, was der Pfarrer sagt, ist Wort Gottes, sondern das, was er aus der Bibel vorliest. Im evangelischen Gottesdienst gibt es nach der alttestamentlichen Lesung keinen Wechselgesang, sondern das einheitliche dreifache Halleluja. Das Evangelium wird gerahmt durch "Ehre sei dir, Herre" – "Lob sei Dir, o Christe".
Die liturgischen Formeln zielen inhaltlich in jedem Fall darauf,
1. Die Bibel als Ort der Offenbarung Gottes zu begreifen. Der theologische Fachbegriff dafür lautet "Wort Gottes", unabhängig davon, ob man dies "wortwörtlich" versteht oder die Bibel lediglich als Zeugnis der Offenbarung auffasst.
2. Einerseits herauszustellen dass der Gott Israels (AT) und der Vater Jesu Christi (NT) derselbe sind (deswegen "Wort des lebendigen Gottes" bzw. "Ehre sei dir, Herre" VOR dem Evangelium), andererseits aber die Neuartigkeit des Christusereignisses, das im Evangelium bezeugt ist, zu unterstreichen (deswegen "Evangelium unseres Herrn Jesus Christus bzw. "Lob sei dir, o Christe" NACH dem Evangelium).
Ich kenne mich in der Geschichte liturgischer Formeln zwar nicht gut aus, vermute aber, dass die katholische Kirche einfach einer anderen Tradition folgt. Die theologische Grundidee ist auf jeden Fall dieselbe, deswegen haben auch viele evangelische Kirchen die katholischen Rahmenformel übernommen
Prinzipiell hat die katholische Kirche kein anderes Schriftverständnis als die evangelische; sie hat sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) und in den ökumenische Diskussion der Formulierung "Bibel ist das Zeugnis der Offenbarung" durchaus angeschlossen, wie umgekehrt diese Formel in der evangelischen Theologie zwar den Mainstream repräsentiert, aber hochumstritten ist. Der Unterschied liegt im Auslegungsverständnis: Während in der katholischen Kirche bei schwierigen oder dunklen Stellen das "Traditionsprinzip" zum Tragen kommt (also die verbindliche Auslegung des kirchlichen Lehramts), entscheidet in der evangelischen Kirche das (individuell anzuwendende) "Schriftprinzip", das heißt die Auslegung der Schrift durch die Schrift nach Maßgabe des eigenen Gewissens. Tatsächlich neigen deswegen eigentlich eher evangelische Gruppierungen zu einem wortwörtlichen Verständnis, weil ihnen die Rückzugsmöglichkeit auf eine traditionelle Lehrmeinung fehlt.
Die Vorstellung, dass Gott die Autoren der Bibel inspiriert hat, also durch seinen Geist geleitet, teilen sich evangelische und katholische Kirche. Die Idee, dass es sogar eine "Verbalinspiration" gegeben hat (also, dass Gott den Autoren die Wörter diktiert hat), entstand in der lutherischen Orthodoxie des 17. Und beginnenden 18. Jahrhunderts. Die katholische Kirche hat diese Vorstellung nur ansatzweise und später übernommen. Heute ist die Vorstellung einer Verbalinspiration lediglich in evangelikale Kreisen noch gültige Vorstellung.
Ich hoffe, das hilft ein wenig weiter!
Herzliche Grüße, Frank Muchlinsky