Sehr geehrter Herr Muchlinsky,
ich interessiere mich zur Zeit sehr für das Thema "Gender Studies" und die damit verbundenen verschiedenen Gender-Theorien. Besonders interessant finde ich dabei den dekonstruktivistischen Ansatz von Judith Butler. Ihr Buch "Das Unbehagen der Geschlechter" finde ich unglaublich inspirierend und regt mich zum Nachdenken an. Nun frage ich mich aber, ob und inwieweit dieser Ansatz von Judith Butler mit dem christlichen Glauben bzw. dem evangelischen Menschenbild vereinbar ist? Im Schöpfungsbericht der Bibel heißt es, dass Gott den Menschen schuf, und zwar männlich und weiblich (1.Mose 1,27). Dagegen behauptet Simone de Beauvoir, die die Theorie J. Butler sicher mitgeprägt hat: "Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht." Ich frage mich, was hier nun stimmt? Irrt die Schrift etwa, wenn sie nahelegt, Gott würde jedem Menschen von Geburt an ein bestimmtes Geschlecht mit auf den Lebensweg geben, nämlich "männlich" oder "weiblich"? Oder ist der Schöpfungsbericht hier ganz anders zu verstehen, als ich es verstehe? Wie steht die evangelische Kirche zum Thema "Gender" und zum Ansatz von J. Butler? Und kennen Sie zufällig noch weiterführende Literatur zum Themenbereich "Gender & Glauben", die sie vielleicht empfehlen könnten?
Ich würde mich freuen, wenn Sie mir helfen könnten!
Viele Grüße Falk
Lieber Falk,
Das Thema Gender ist auch in der Theologie ein viel diskutiertes, und da Sie explizit nach der Schöpfungsgeschichte fragen, habe ich mir erlaubt, mir bei der Beantwortung Hilfe zu holen. Die folgende Antwort ist von Prof. Melanie Köhlmoos. Sie lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt Altes Testament.
Lieber Falk,
Überraschenderweise lässt sich der Ansatz von Butler und de Beauvoir sehr gut mit der Bibel vereinbaren!
Wie Sie wissen, wird von der Schöpfung des Menschen zweimal erzählt: 1. Mose 1,1-2,4 und 1. Mose 2,4-3,26. Die beiden Berichte stimmen nicht vollständig miteinander überein und sind vielleicht deswegen hintereinander gefügt worden, um deutlich zu machen, dass es mehrere Theorien über das Mensch-Sein gibt (eine hervorragende und gut lesbare Analyse finden Sie bei Andreas Schüle, Die Urgeschichte, Zürcher Bibelkommentare).
In 1. Mose 1,27 steht …als Bild Gottes schuf er sie, MÄNNLICH und WEIBLICH schuf er sie. Der hebräische Text verwendet hier die biologischen Begriffe, also das, was in der Gender-Forschung "Sex" heißt. Dies – und nur dies – ist nach dem ersten Schöpfungsbericht also schöpfungsmäßige Gegebenheit, und es zielt darauf, dass, wenn die Menschheit sich vermehren soll, dazu Männlein und Weiblein notwendig sind.
Der – in dieser Hinsicht wesentlich komplexere – zweite Schöpfungsbericht geht mit dem Thema etwas anders um. Danach schafft Gott zunächst einmal einen "Menschen". Obwohl Adam sowohl Mensch als auch Mann bedeutet, ist hier ein Exemplar der Gattung gemeint. Als ihm (Gott) aufgeht, dass ein einzelnes Gattungsexemplar nicht sinnvoll ist (Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei), sucht er nach einer Ergänzung und stellt am Ende einen zweiten Menschen aus dem Material des ersten her. Dieses Wesen heißt "Frau", hebr. Ischa. Der Mensch stellt dann selbst fest: "Diese wird man Ischa nennen, denn vom Mann (Isch) ist sie genommen." Das heißt also, hier ist von "Gender" die Rede: Frau und Mann als gesellschaftliche Größen definieren sich gegenseitig im Bezug aufeinander. Dass es dann (1. Mose 3) einen "männlichen" und einen "weiblichen" Weg des Lebens gibt, ist das Resultat dessen, was im Zusammenhang mit Apfel und Schlange geschehen ist. Es hätte, wie 1. Mose 2,24 feststellt, auch ganz anders sein können.
Soweit der bibelwissenschaftliche Teil – nachlesen kann man das hervorragend im "Kompendium feministische Bibelauslegung".
Was das Thema "Gender und Kirche" angeht, kann ich Ihnen soviel sagen, dass inzwischen die schöpfungsmäßige Gleichheit der Geschlechter sozusagen allgemeine Meinung ist. Die Zustimmung zu Judith Butlers (und Simone de Beauvoirs) Ansatz ist deswegen etwas schwierig, weil beide mit reichlicher Polemik "der" Kirche (Frau Butler sogar "der" Religion) vorwerfen, dass sie (mit Bezug auf die Bibel) eben von einer naturhaften Unterschiedlichkeit der Geschlechter ausgegangen ist und somit (falsche) Bilder vom Geschlecht zementiert hat. Historisch ist das richtig und die eben skizzierte bibelwissenschaftliche Einsicht (die sich einem Blick auf die Texte verdankt, der von eben jener Perspektive beeinflusst ist) ist auch längst noch nicht überall angekommen. Dass sich dort etwas tut, wird von Judith Butler eher ignoriert – sie bleibt vielfach bei ihrer Polemik. Insofern kann die angegriffene Institution sich schlecht die Position des Angreifers offiziell zu eigen machen. Der Sache nach sind wir aber auf dem Weg.
Die Debatten um Lebensformen und Familienbild innerhalb der EKD und ihrer Gliedkirchen zeigen, dass hier ein "Paradigmenwechsel" stattfindet, dieser sich aber nur langsam vollzieht.
Mit freundlichen Grüßen
Melanie Köhlmoos
Ich ergänze an dieser Stelle noch den Hinweis, dass hier im Fragenbereich von evangelisch.de die Frage nach den Lebensformen auch mehrfach diskutiert wurde. Sie finden die verschiedenen Debatten hier.
Herzliche Grüße und weiterhin viel Freude bei Ihren Studien!
Frank Muchlinsky