Warum redet die Kirche ständig über sexuelle Orientierung?

Matthias
Lichtreflexionen eines Buntglasfensters fallen auf den Boden der St John's Cathedral in Brisbane.
© Getty Images/iStockphoto/Hemera/Craig Jewell

Hallo liebes Team von evangelisch.de, 

ich frage mich, warum die sexuelle Orientierung von Menschen als so wichtig betrachtet wird, eben auch in der Kirche. Ich denke, wir sollten unseren Fokus auf Jesus setzen und unsere Identität nicht von unserer Sexualität bestimmen lassen, denn wir sind doch zu so viel mehr berufen! Durch unseren Glauben gehören wir zu Christus (2. Kor 5,17), sind eine neue Kreatur, Gottes Kinder! Und das schließt doch eben schon alle mit ein, warum gibt man sich so viel Mühe aufzuzeigen, wie veraltet einige biblische Passagen sind, z.B. die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau oder die Passagen über Homosexualität. Wo liegt da der Fokus? Denn in der Bibel, in den Reden von Jesus hört man kein Wort der Ausgrenzung, vielmehr werden alle, und vor allem die Schwächeren, angesprochen. Da ist doch schon jeder angesprochen, egal welche Ethnie, Geschlecht, etc. 

Jesus sagt zu uns: "Folge mir nach!", um ein Leben in der Herrlichkeit und in der intimsten Gemeinschaft mit Gott zu leben, damit wir zu Menschen der Liebe verändert werden. Das ist doch so eine frohe, herrliche wunderbare Nachricht, die ich aber immer weniger vernehme und vielmehr Engagement für den Pride Month oder andere Dinge, die ich doch schon so oft von der Gesellschaft, von der Welt höre. Ist unsere Nachricht nicht noch viel voller, viel füllender? Als nur: du bist angenommen wie du bist, weil das sind wir alle vor Gott. Dennoch müssen wir auch nicht so bleiben wie wir sind, dürfen uns verfügbar für ihn machen und uns verändern lassen. 

Und darum geht es doch, Jesus ähnlicher zu werden. Und nicht, wer jetzt die richtigere politische Meinung hat. Generell empfinde ich die Spaltung in christlichen Kreisen als enorm tragisch, da wir ja eigentlich an den gleichen Gott glauben, der so viel Wert auf Einheit legt. Was machen wir also falsch? Ich denke, wir gewichten den theologischen, den theoretischen Aspekt des Christseins zu hoch. Denn genauso, wie wir nicht nur aus Geist bestehen, sondern aus einer Einheit, etablierte Jesus eben auch einen Lebensstil mit praktischen Übungen, wie Beten in der Einsamkeit, Fasten, Gemeinschaft, Lobpreis, Meditieren... Warum hissen wir vor unseren Kirchen Pride Flaggen, warum nicht Jesus Flaggen? Warum werden wir zunehmend politischer, grenzen gar manche aus aufgrund ihrer Meinungen? Also habe ich eine ganz grundsätzliche Frage: Wie bewerten Sie die Situation der Kirche in Deutschland im 21. Jahrhundert, finden sie die zunehmende Fokussierung auf politische und sexuelle Themen gerechtfertigt? Denn ich finde, da steckt noch mehr dahinter. 
Liebe Grüße und Gottes Segen

Lieber Matthias,

Danke für Ihre Frage. Aber eine Antwort muss ich Ihnen nicht geben, denn Sie beantworten Ihre Frage selbst. Sie fassen in Ihren Sätzen all das zusammen, was es über die Liebe Gottes und die Quelle menschlicher Liebe zu sagen gibt: "Jesus sagt zu uns: "Folge mir nach!", um ein Leben in der Herrlichkeit und in der intimsten Gemeinschaft mit Gott zu leben, damit wir zu Menschen der Liebe verändert werden." Danke für diesen Satz, der meine Antwort an Sie perfekt auf den Punkt bringt. Diese Antwort überwindet jede Art der Spaltung, die sich in einer Gemeinde oder unserer Kirche abzeichnen könnte. Wie man Spaltungen konkret überwindet? Sie antworten selbst: "Denn in der Bibel, in den Reden von Jesus hört man kein Wort der Ausgrenzung." Das gilt auch für den "Umgang mit der LBGTQ Community in der Kirche", den Sie in Ihrer Überschrift erwähnen. 

Jesu Wort schließt also sehr verschiedene Menschen zu einer großen Gemeinschaft zusammen. So ist die Kirche schon im Galaterbrief beschrieben: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Gal 3,28). Wie ich die Situation der Kirche in Deutschland im 21. Jahrhundert bewerte? Meine Antwort deckt sich mit der Antwort des Apostels: "Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben." (Gal 3,29

Bildlich gesprochen: Die Flagge Jesu Christi ist gehisst und jede und jeder kann sie sehen. Sollten wir in unserer Kirche über ethische und gesellschaftspolitische Fragen unterschiedlicher Meinung sein, so hält das Bekenntnis zu Jesus Christus uns als Gemeinde und Kirche zusammen. 

Eine zunehmende Fokussierung auf politische und sexuelle Themen kann ich in der Kirche nur in der öffentlichen Diskussion über unsere Kirche feststellen. Die Realität aber ist anders: In "meiner" Kirchengemeinde z.B. hoffen, glauben, beten die Menschen und wer sich welchem Geschlecht zuordnet, wird bei uns nicht kommentiert. Wir verlassen uns darauf, dass jede und jeder verantwortungsvoll sein Leben führt und sich gegenüber Gott und den nächsten Menschen  zuverlässig verhält. Ich reise viel und ehrlich gesagt: Am Fahnenmast vor einer Kirche habe ich noch nie eine Regenbogenfahne gesehen, wohl aber Kreuze, die Farben der Diakonie, die jeweilige Jahreslosung und viele bunte, im Kindergottesdienst gemalte Fahnen.

Wir sind uns also einig: Fasten, Gemeinschaft, Lobpreis, Meditieren macht das Leben der Kirche stark und überwindet Meinungsunterschiede, die mancher politische Diskurs zwischen uns und in der Kirche schafft. Wir akzeptieren, dass andere Menschen in unserer Kirche anders leben als es vor 60 Jahren die Norm in unserer Gesellschaft war. Dass Frauen sich in Frauen verlieben, Männer andere Männer heiraten und sich auch als Christin und Christ bekennen, ist doch heute kein Problem mehr. Dass die junge Generation mit Themen der Sexualität anders umgeht, als die Generation, die heute zu den Alten zählt, wo ist das ein Problem? Wichtig ist, dass wir christlich verantwortet unser Zusammenleben gestalten. Oder mit Ihren Worten: "Darum geht es doch, Jesus ähnlicher zu werden." 

Zum Glück haben wir alle in den vergangenen Jahrzehnte zu vielen Themen hinzugelernt. So spannt Ihre Antwort, die Sie sich selbst geben, den größeren Bogen, der alle neuen Erkenntnisse in sich einschließt: "In der Bibel, in den Reden von Jesus hört man kein Wort der Ausgrenzung, vielmehr werden alle, und vor allem die Schwächeren angesprochen. Da ist doch schon jeder angesprochen, egal welche Ethnie, Geschlecht, etc. Jesus sagt zu uns: "Folge mir nach!"" Diese Antwort ist wichtiger als das, was man als den "Zeitgeist" bezeichnet. 

In Ihrer Antwort sind alle denkbaren Unterschiede, die in der Regel von Menschen erfunden worden sind, überwunden. Und wenn es um Jesus geht, dann ist bei ihm immer ein umfassendes "Alle" zu hören. Jesus sagt: "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." (Joh 3,16

Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Frage, die meine Antwort enthält und uns in herzlicher Geschwisterschaft verbindet, ich grüße Sie von Herzen, 

Ihr Henning Kiene 

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