Darf ein Christ Jesus widersprechen?

Sören
stenger Jesus
©Getty Images/iStockphoto/Antonio Gravante

Lieber Herr Muchlinsky,

die Bibel beinhaltet bekanntlich so manchen Widerspruch wie auch Aussagen, die aus heutiger ethischer Sicht z. T. äußerst problematisch sind. Den Umgang mit solchen Stellen erleichtert mir der Grundsatz Martin Luthers, das biblische Zeugnis von seinem Zentrum, von Jesus Christus aus zu beurteilen. Doch wie verhält es sich, wenn ich in der einen oder anderen Frage zu Christus selbst im Gegensatz stehe? Ein gutes Beispiel bietet hier seine eindeutig ablehnende Haltung zur Ehescheidung. Ich dagegen denke, dass es Situationen gibt, in denen die Scheidung einer Ehe zum Wohle eines oder beider Partner dringlich geboten sein kann. Ich weiß natürlich, dass u. a. die Evangelische Kirche das auch so sieht. Aber was ist dann der Maßstab für den Umgang mit den überlieferten Äußerungen Jesu? Mir ist bis jetzt kein besserer Weg eingefallen, als jener, im Zweifelsfall innerhalb der Lehre Jesu zu gewichten und dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe unbedingt den ersten Rang einzuräumen. Schließlich war Jesus ja – auch – „wahrer Mensch“ und müsste als solcher bis zu einem gewissen Grade der Vorstellungswelt und den Denkweisen seiner Zeit verhaftet gewesen sein. So hat er ja auch meines Wissens weder die damals übliche und heute zu Recht verurteilte Sklaverei, noch die Todesstrafe grundsätzlich in Frage gestellt (bei der Begebenheit mit der Ehebrecherin scheint er mir weniger auf die Steinigung als vielmehr auf die Gewissenserforschung der versammelten Menge abgezielt zu haben). Doch wo ist eher der Mensch am Werk und wo waltet die göttliche Autorität? Verlasse ich den Boden des Christentums, wenn ich mir die Entscheidung darüber selbst anmaße?
Ich hoffe, ich konnte mein Problem deutlich machen und würde mich sehr freuen, wenn Sie mir einen Weg zeigen könnten, damit in verantwortlicher Weise so umzugehen, dass ich immer noch guten Gewissens Christ sein kann.

Vielen Dank schon einmal und herzliche Grüße

Lieber Sören,

herzlichen Dank für die ausführliche Frage! Das macht mir das Antworten leichter, denn Sie schreiben schon ganz viel von dem, was ich Ihnen sonst geschrieben hätte. Im Grunde genommen möchte ich zu den meisten Sätzen von Ihnen einfach zu sagen: "Genau! So machen Sie es richtig!" Aber gern der Reihe nach:

Sie machen es meines Erachtens richtig, wenn Sie dem Grundsatz folgen, Jesus Christus als den Ausgangspunkt für die Auslegung der Bibel zu nehmen. Jesus Christus als Zentrum des biblischen Zeugnisses zu verstehen, bedeutet aber nicht, sämtliche der von ihm überlieferten Worte als vollkommen unhinterfragbar zu erachten. Auch Luther meinte mit seiner Aufforderung, die Bibel von Jesus Christus her zu lesen, dass man die Bibel von der Heilsbotschaft her lesen muss, die uns in Jesus Christus gegeben wurde. Mit anderen Worten: Durch Jesus Christus haben alle Menschen Anteil am Heil Gottes. Das ist die Botschaft, von der aus die Bibel zu verstehen ist.

Und dann gilt es tatsächlich zu gewichten, denn es kann nicht alles gleichzeitig und unumstößlich gelten. Wie Sie schreiben, ist die Ehescheidung so ein Punkt. Wenn ein Mensch in einer Ehe Unterdrückung oder Gewalt erlebt, dann gibt es keinen einzig richtigen Weg, denn es wird in jedem Fall ein Gebot verletzt. Entweder man lässt sich scheiden, und das soll ja tatsächlich nach christlichem Verständnis nicht sein, oder man lässt zu, dass ein Mensch ständig sein Versprechen bricht, dass er bei der Eheschließung gegeben hat, nämlich das Gegenüber zu achten und zu ehren. Welches Gebot soll man also brechen?

Sie sind auf den richtigen Weg, wenn Sie "gewichten", wie Sie schreiben. Jesus selbst hat das getan. Er selbst hat das doppelte Liebesgebot als das Wichtigste bezeichnet. Ich würde gar nicht so weit gehen und sagen, Jesus hätte es als Kind seiner Zeit (und als "wahrer Mensch") nicht besser gewusst. Vielmehr denke ich, dass Jesus sich auf Diskussionen eingelassen hat. Uns ist überliefert, dass Jesus gern und viel diskutiert hat. Natürlich sind uns vor allem die Gespräche bekannt, in denen er quasi als Sieger aus Streitgesprächen hervorgeht, aber gerade bei der Frage nach dem höchsten Gebot, zum Beispiel (Mk 12,28-34), sind sich der Schriftgelehrte und Jesus einig, und von Jesus heißt es, dass er "sah, dass er (der Schriftgelehrte) verständig antwortete". Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass man mit Jesus auch über bestimmte Situationen reden könnte, in denen eine Scheidung einer Ehe, in der Gewalt herrscht, vorzuziehen sei.

Die göttliche Autorität ist also da am Werk, wo wir im Sinne des Evangeliums von Jesus Christus denken und handeln. Der Weg, den Sie beschreiten ist darum nach meiner Überzeugung ein guter. Er ist kein ebener oder leichter Weg, weil Sie eben immer wieder genau hinschauen müssen, wie Sie gewichten, und was der Botschaft vom Jesus Christus entspricht. Sie maßen sich gerade nicht etwas an, sondern Sie stellen sich und Ihr Urteil immer wieder in den Zusammenhang mit Ihrem Glauben und mit dem christlichen Zeugnis.

Ich wünsche Ihnen alles Gute!

Ihr Frank Muchlinsky

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