Sehr geehrte Frau Scholl.
ich habe eine Frage zur Keuschheit. Ich persönlich (28J.) bin lesbisch-liebend ohne Beziehungserfahrung. Ich lebe seit einigen Jahren bewusst sexuell enthaltsam, sprich ich enthalte mich aller sexuellen Aktivität inklusive Selbstbefriedigung. Wie lautet die Haltung der evangelischen Kirche zu einem selbstgewählten Leben in sexueller Enthaltsamkeit? Existieren Bibelverse hierzu? Gott spricht, es sei nicht gut, dass der Mensch alleine ist. Lebe ich in Sünde, wenn ich weiterhin so lebe?
Grüße und Gottes Segen
Anonyma
Liebe Fragenstellerin,
vielen Dank für Deine Zeilen. Im Protestantismus gibt es weder eine dezidiert empfehlende Haltung zur Enthaltsamkeit noch wird diese Lebensform, für die Du Dich aktuell entschieden hast, in irgendeiner Form als defizitär angesehen.
Als evangelische Christin ist mir in Bezug auf das Thema Sex vor allem der freie und verantwortungsvolle Umgang im Hinblick auf mich selbst und andere von besonderer Bedeutung. Also der freie Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Sexualität sowie verantwortliches Handeln im Hinblick auf die Grenzen anderer und meiner eigenen. Dies gilt selbstverständlich ebenso für gleichgeschlechtliche Liebe wie ebenso für heterosexuelle.
Was nun frei und verantwortlich im einzelnen Fall bedeuten kann, muss jede und jeder für sich individuell entscheiden. Für manche Menschen lässt sich dies am besten in einer monogamen Beziehung leben. Andere führen keine festen Beziehungen, haben aber dennoch Sex, andere fühlen sich asexuell und wieder andere entscheiden sich dagegen ihre Sexualität auszuleben.
In 1Kor 7, 1-2 stellt Paulus die Ehelosigkeit als vorzuziehende Lebensform dar, gleichzeitig hält er aber die Ehe dennoch für eine akzeptable Lebensform. Dieser Hinweis lässt sich allerdings vorrangig vor dem Hintergrund verstehen, dass die christlichen Gemeinden zu dieser Zeit noch in Naherwartung der Wiederkunft Christi gelebt haben. Aus einem solchen Satz also ein christliches Ideal der Ehelosigkeit oder sexuellen Enthaltsamkeit abzuleiten ist also eher nicht sachgerecht.
Du fragst Dich, ob Du in Sünde lebst und führst dabei 1. Mose 2,18 an: „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.“ Dazu ist zu sagen, dass die Bibel kein Gesetzbuch ist, aus dem sich aus jedem einzelnen Satz eine über alle Zeiten gültige Lebensregel ableiten ließe. Am Anfang der Bibel, also in der Genesis, geht es weniger darum, wie es in der Welt sein soll, als vielmehr darum, dass die Autoren mit diesen Erzählungen vom Entstehen der Welt der Frage auf die Spur kommen wollen, warum uns diese oder jene Dinge eigentlich begegnen.
Für die von Dir angeführte Stelle bedeutet dies, dass es keinesfalls darum geht, Enthaltsamkeit als Sünde zu diffamieren, sondern in der Erzählung von der Erschaffung zweier Menschen, die einander als Paar gegenübergestellt werden von Gott, eine Erklärung dafür gesucht wird, warum Menschen überhaupt in Beziehungen leben.
Ob Deine Lebensweise Dich von Gott trennt oder nicht, hängt letztlich damit zusammen, ob Du Dir selbst und anderen Menschen damit gerecht wirst oder ob Du Dir selbst und/oder anderen damit schadest.
Ich glaube auch, dass die eigene Sexualität etwas sehr lebendiges und bewegliches ist und dass selten das, was man einmal über seine eigenen sexuellen Bedürfnisse dachte, für ein ganzes Leben Gültigkeit hat. Ich wünsche Dir, dass es Dir gelingt, immer wieder in Dich hineinzuhören, ob der Umgang mit Deiner Sexualität, für den Du Dich in der Vergangenheit entschieden hast, jeweils gegenwärtig noch passt oder ob sich etwas bei Dir geändert hat und sich daraus auch andere Entscheidungen ergeben.
Herzliche Grüße
Katharina