Guten Tag Herr Muchlinsky,
vor einem Jahr kam mein zweiter Sohn zur Welt und nach der Geburt sahen wir sofort, dass er Trisomie 21 hat. Wir hatten keine pränatalen Untersuchungen gewollt, da für uns kein Schwangerschaftsabbruch infrage gekommen wäre. Das war auch die richtige Entscheidung. Seit seiner Herz-OP entwickelt er sich nicht schlechter, als es ohnehin zu erwarten war und er ist einfach ein glücklicher kleiner Junge, süß und von allen geliebt. Es war zwar zeitweise medizinisch schwierig, aber dann letztendlich lösbar. Kurz gesagt, es läuft. Leider habe ich bestimmte Gedankenverstrickungen, für die ich keine Lösung finde.
Ich fühle mich so schuldig für die Behinderung meines Sohnes. Überall ist nachzulesen, dass Trisomie 21 vor allem bei Schwangeren über 35 Jahren auftritt. Das ist erwiesen und allgemein bekannt. Ich war knapp 36 Jahre alt. Ich hätte früher anfangen sollen, um auch meinem zweiten Sohn die Behinderung zu ersparen. Jetzt ist ja alles gut, aber wenn ich alt bin, mich nicht mehr um ihn kümmern kann und er auf die Hilfe von Betreuern angewiesen sein wird, mit denen er Glück oder Pech haben kann, dann kann ich ihm nicht mehr helfen. Des Weiteren hätte ich gar nicht früher Kinder bekommen können, weil mein Mann einige Jahre jünger ist als ich und noch mehr Zeit gebraucht hat. Umso schuldiger fühle ich mich nun, da er diese schlimme Zeit, die nun hinter uns liegt, mit einer jüngeren Frau nicht hätte erleben müssen. Leider kann ich mit ihm nicht darüber sprechen, weil er was dieses Thema betrifft einfach nicht gesprächsbereit ist. Ich kann dann nur spekulieren, was in ihm vorgeht.
Dann unsere Eltern. Wegen mir haben sie nun den Schmerz, ein behindertes Enkelkind zu haben. Für meinen Vater ist es extrem schlimm. Er würde es niemals zugeben, aber natürlich weiß ich es trotzdem. Auch die anderen Verwandten müssen einen Weg finden, damit umzugehen. So viel Leid. Und das alles, weil ich in meinem Alter noch ein zweites Kind haben wollte. Ich habe einfach nicht bedacht, dass meine Entscheidungen auch andere Menschen in so großem Maß betreffen. Wenn ich bete, dann kommt keine Antwort. Ich glaube, mein Kopf ist nicht frei genug. Ich weiß auch nicht, ob diese Schuld, die ich fühle, echt ist oder nur Selbstmitleid. Was würde wohl Gott sagen, wenn ich ihn hören könnte?
Viele Grüße Christina
Liebe Christina,
alles, was wir tun, hat Folgen. Manche Folgen können wir voraussehen, manche überfallen uns. Sie haben sich für Ihren Sohn entschieden, und nun ist er am Leben, "glücklich und von allen geliebt", wie Sie schreiben. Was wäre die Alternative gewesen? Die Alternative wäre eine Welt ohne ihn. Ihre Familie hätte ein geliebtes Kind weniger und – das machen Sie ja deutlich – auch weniger Probleme. Aber kann man eine solche Rechnung überhaupt aufmachen? Immerhin geht es um Ihr geliebtes Kind!
Eine wichtige Erkenntnis des christlichen Glaubens ist es, dass niemand alles richtig machen kann. Wir können uns gar nicht immer richtig entscheiden. Theologisch gesagt: Es gibt keine Möglichkeit, ganz ohne Schuld durch das Leben zu gehen. Ich denke, das passiert Ihnen gerade und darum fühlen Sie sich schuldig. Ich weiß natürlich nicht, was Gott Ihnen genau sagen würde, aber ich denke, dass es mit Sicherheit darauf hinauslaufen würde, dass Gott Ihnen sagt: "Was dich bedrückt, das ist dir vergeben!" Vielleicht sagt Gott auch noch: "Mach dir nicht zu viele Sorgen! Ich liebe dein Kind genauso, wie es ist. Menschen mögen in ihm die Trisomie sehen. Ich erkenne das geliebte Menschenkind." Wenn Ihre Familienmitglieder Last und vielleicht Schmerz mit der Tatsache haben, dass Ihr Sohn Trisomie 21 hat, dann tut mir das leid für Sie, aber es nicht Ihr Problem, Christina. Es ist das Problem Ihrer Familie. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn Ihr Kind auf Hilfe angewiesen ist.
Mir kommt noch eine Aussage von Jesus in den Sinn. In der Bergpredigt sagt er: "Macht euch also keine Sorgen um den kommenden Tag – der wird schon für sich selber sorgen. Es reicht, dass jeder Tag seine eigenen Schwierigkeiten hat." (Matthäus 6,34) Vielleicht wird einmal der Tag kommen, an dem Sie zu alt sein werden, Ihrem Sohn zu helfen, wie er es braucht. Aber darüber brauchen Sie sich im Moment wirklich keine Sorgen zu machen. Heute ist er – ich wiederhole das noch einmal, weil ich es so mag, was Sie geschrieben haben – "ein glücklicher kleiner Junge, süß und von allen geliebt".
Machen Sie sich Ihr Leben also nicht schwer mit Gedanken, was Sie irgendwann einmal tun müssen, oder was Sie vielleicht früher anders hätten machen sollen! Kümmern Sie sich um das, was jetzt nötig ist. Das ist genügend Aufgabe. Und nicht zuletzt: Verzeihen Sie sich selbst!
Sehr herzliche Grüße!
Frank Muchlinsky
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