Kann ich aktiv glauben, auch wenn ich nicht in den Gottesdienst gehe?

Anne
Frau liest in der Lutherbibel
© epd-bild / Jens Schulze
Wer selbst in der Bibel liest, ist aktiver, als jemand, der beim Lesen zuhört.

Sehr geehrter Herr Muchlinsky,
ich bin von klein auf immer gerne in die Kirche gegangen und liebe meinen Glauben und meine Verbindung zu Gott. Vor ein paar Jahren jedoch hatte ich ein sehr einschneidendes, traumatisches Erlebnis und seitdem kann ich keine Orgelmusik mehr hören. (Ich bin deswegen natürlich in Behandlung, aber ganz wegzaubern lässt es sich leider (noch) nicht) Hier ist jedoch das Problem: Es gibt keinen Gottesdienst ohne Orgelmusik.
Zum einen vermisse ich das Ganze, zum anderen jedoch stelle ich mir die Frage: Geht meine Verbindung zu Gott verloren, wenn ich nicht mehr in den Gottesdienst gehe? Ich lese natürlich regelmäßig in der Bibel und bete auch, aber das ist natürlich nicht ganz dasselbe... Ich selbst habe teilweise das Gefühl, dass mein Glauben ein bisschen gewachsen ist, weil ich mich seitdem selbst viel mehr damit beschäftigt habe, anstatt mich nur (verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, das ist jetzt natürlich nicht wirklich ernst gemeint) im Gottesdienst "berieseln" zu lassen. Aber wie denkt denn so die Kirche darüber? Geht das überhaupt? Eine Verbindung zu Gott und Glauben, ohne den Gottesdienst zu besuchen?
Haben Sie vielleicht noch einen Rat für mich, was ich zur Stärkung des inneren Glaubens tun kann?
Vielen Dank für Ihre Hilfe!
Mit freundlichen Grüßen,
Anne

Liebe Anne,

vielen Dank für diese Frage! Ich finde sie deswegen so interessant, weil ich glaube, dass es vielen anderen ähnlich geht wie Ihnen. Zwar ist Ihr Grund, warum Sie nicht mehr in den Gottesdienst gehen, ein besonderer, aber nicht zuletzt durch die lange Corona-Zeit sind viele Menschen in einer ähnlichen Lage (gewesen), wie Sie. Auch diejenigen, die gern sonntags in die Kirche gingen, mussten Alternativen für die Gottesdienste finden. Alle mussten wir sehen, wie wir unseren Glauben "füttern" und unsere Beziehung zu Gott ohne den Gang zur Kirche pflegen.

Tatsächlich haben auch viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass ihr Glaube durch die verschiedenen Alternativen tiefer wurde und sich veränderte. Ich glaube, dass es damit zu tun hat, dass Sie und wir alle selbst aktiv werden mussten. Der sonntägliche Gang zur Kirche kann ja tatsächlich auch in einem "Berieselt-Werden" enden. Die Teile des Gottesdienstes, in denen die Gemeinde etwas zu tun hat, sind rar, und wenn man nicht einmal mehr selbst singen darf, wird man noch passiver.

Also haben wir, wie Sie, angefangen, uns selbst aktiver mit Gott, der Bibel und unserem Glauben auseinanderzusetzen. Wer selbst in der Bibel liest, ist aktiver, als jemand, der beim Lesen zuhört. Wer sich beim Beten eigene Worte ausdenkt, ist aktiver, als jemand, der lediglich am Ende eines Gebetes "Amen" sagt. Dieses Aktiv-Sein vertieft den Glauben und damit die Beziehung zu Gott.

Ich kann aber auch Ihr Unbehagen verstehen, das Gefühl, dass etwas fehlt, dass etwas zu kurz kommt. Unser Glaube ist nicht einer, den wir allein mit Gott ausmachen können. Der christliche Glaube ist keine vollständig individuelle Sache. Das Symbol unseres Glaubens ist ein Kreuz, und das symbolisiert auch eine doppelte Verbindung: Eine senkrechte Linie, die Gott und die Menschen verbindet und eine horizontale, die die Menschen miteinander verbindet. Wir kommen zusammen, um uns von Gott helfen zu lassen und um uns gegenseitig zu ermutigen. Das ist ein wichtiger Aspekt des Gottesdienstes, Gemeinschaft zu haben.

Darum sind besonders während der Zeit der Lockdowns und der anderen Beschränkungen eine Menge neuer Ideen umgesetzt worden: Online-Gottesdienste, Gottesdienste im Freien oder in kleineren Kreisen … Alles Formate, bei denen die Orgel keine Rolle spielt. Es gibt auch in Kirchen eine Reihe von Gottesdiensten, in denen die Orgel schweigt – nicht überall, aber an vielen Stellen. Vielleicht schauen Sie sich einmal um, ob eine Nachbargemeinde bei Ihnen solche Gottesdienste feiert. Familiengottesdienste oder Abendgottesdienste kommen zum Beispiel gern ohne Orgel aus. Meistens sind diese Formen auch – und damit sind wir wieder am Beginn – aktivierender für die Gemeinde.

Nun also noch einmal auf den Punkt gebracht: Eine Verbindung zu Gott ohne Gottesdienstbesuch ist möglich und kann durchaus tief sein. Die Verbindung zu anderen Menschen des Glaubens sollten Sie trotzdem aufrechterhalten, weil es gut tut, mit ihnen zu feiern.

Herzliche Grüße!

Frank Muchlinsky

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