"Und führe uns nicht in Versuchung"
Das beten wir jeden Sonntag (wenn wir denn zum Gottesdienst gehen) oder wann immer wir das Vaterunser beten. Gott führt doch nicht in Versuchung. Warum heißt es dann nicht: "und lass mich keiner Versuchung erliegen ..." oder so ähnlich.
Dieses Thema wird bei uns heiß diskutiert. Natürlich wissen wir alle, dass es sooo nicht gemeint ist, aber wir beten es so, und ich wurde von einem Juden gefragt, warum wir Gott bitten, dass er uns nicht in Versuchung führt.
Liebe Christiane,
die Frage, ob Gott uns Menschen versucht, wird immer wieder heftig diskutiert. Vor allem deswegen, weil wir uns nicht vorstellen möchten, dass Gott uns absichtlich zur Sünde verleiten will, denn das ist ja eine Vorstellung davon, was Versuchung meint. Wenn wir vom „Versucher“ reden, meinen wir den Teufel, und es kommt uns gläubige Menschen hart an, uns vorstellen zu sollen, dass Gott wie der Teufel mit uns umgeht.
Der ganzen Diskussion liegt allerdings ein Missverständnis zugrunde, bzw. ein Übersetzungsproblem. Das Vaterunser, wie wir es im Gottesdienst beten, beruht auf Luthers Übersetzung der Textstelle in Mt 6,9-13. Luther nutzt das Wort „versuchen“ in den verschiedenen Bedeutungen. Einerseits kann der Teufel den Menschen versuchen (z.B. in der Versuchung Jesu, Mt 4,1-11). Es kann aber auch der Mensch Gott versuchen. Jesus zitiert in der genannten Versuchungsgeschichte einen Vers aus 5.Mose 6,16: „Ihr sollt den HERRN, euren Gott, nicht versuchen.“ Schon hier wird deutlich, dass „versuchen“ nicht immer in dem Sinne verstanden werden kann, wie „jemanden zur Sünde verleiten“, denn wie sollte ein Mensch denn wohl in der Lage sein, Gott zur Sünde zu verleiten?
Kommen wir nun zu den Textstellen, in denen steht, dass Gott einen Menschen versucht. Anfangen will ich mit dem „Klassiker“ derjenigen, die in der Bitte des Vaterunsers eine Unmöglichkeit sehen, Jakobus 1,13: „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand.“ Was der Schreiber des Jakobusbriefes hier meint, ist eben die Versuchung zum Bösen, die in der Bitte des Vaterunsers nicht gemeint ist, wenn es heißt: „Führe uns nicht in Versuchung“.
Um zu erahnen, was aber nun im Vaterunser gemeint ist, lohnt sich zunächst ein kleines Seitenblick in den hebräischen Teil der Bibel, unser Altes Testament, die Tora der Juden. Auch dort kommt es (in der Übersetzung Luthers) durchaus vor, dass Gott Menschen „versucht“. Ein bekanntes Beispiel ist Gen 22,1ff.: „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“
Wieder steht hier „versuchen“, doch ist damit etwas anderes gemeint: Gott stellt Abraham eher vor eine Prüfung. Das hebräische Wort, das Luther hier mit versuchen übersetzt, lautet „Nasā“ und ist eigentlich ein Begriff aus der Rechtssprache. Es hat die Ursprüngliche Bedeutung von: jemanden zu einem Rechtstreit herausfordern, jemanden einem Gerichtsverfahren unterziehen und eben auch: Jemanden einer (Leidens-)Prüfung unterziehen. Nasā wird von Luther an einer anderen Stelle auch tatsächlich nicht mit versuchen übersetzt, sondern mit prüfen: Ex 16,4: „Da sprach der HERR zu Mose: Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen, und das Volk soll hinausgehen und täglich sammeln, was es für den Tag bedarf, dass ich's prüfe, ob es in meinem Gesetz wandle oder nicht.“
In diese Richtung geht wohl auch die Bedeutung des griechischen Wortes „Peirasmos“, wie es im Vaterunser verwendet wird. Es kann sowohl prüfen als auch versuchen (im Sinne von: Zur Sünde verführen) heißen. Im Vaterunser lehrt Jesus seine Jünger zu beten. Er sagt ihnen, sie sollen (unter anderem) darum bitten, dass Gott ihnen die Prüfungen erspart, die ihnen drohen, weil ihr Glaube auf die Probe stellt werden wird. Wir können uns das vielleicht ähnlich vorstellen, wie bei den „Prüfungen“, durch die Abraham (Gen 22) oder das Volk Israel (Ex 16) hindurch mussten. Nur sind die „Prüfungen“, die das Vaterunser meint, noch viel schrecklicher, denn es sind die, die Jesus immer wieder ankündigt: Zum Beispiel in Mt 24,3-11 (in Auszügen): „Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht zu, dass euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen. Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; seht zu und erschreckt nicht. … Dann werden sie euch der Bedrängnis preisgeben und euch töten. Und ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden viele abfallen und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen.“
Das ist die Versuchung, die Prüfung, von der Jesus sagt: „Bittet euren himmlischen Vater darum, dass er euch das erspart.
Ich hoffe, ich konnte Ihre Diskussion ein wenig bereichern!
Herzliche Grüße
Frank Muchlinsky