Hallo,
neulich besuchte ich den Kölner Dom. Dort gibt es auch einen Raum, der zeigt, wie blind die Gesellschaft auch bis vor kurzen immer noch gewesen ist. In den 1960er Jahren wurde im Kölner Dom noch ein Fenster eingebaut, welches eine Darstellung beinhaltet, in der Menschen der jüdischen Glaubensgemeinschaft ganz klar diffamiert wurden. Und das alles nach dem Krieg und den bestialischen Akt der Grausamkeit, für den ich nicht annähernd die richtigen Worte finden kann. Das kann wohl niemand. Wie kann so was geschehen? Wieso sind so viele blind, obwohl vorher aber Millionen Menschen bereits aus blankem Hass getötet worden sind? Wieso können Menschen in die Kirche gehen, beten und singen und trotzdem Ablehnung und Hass leben? Auch beschäftigt mich seit geraumer Zeit die Schuldfrage. Wie kommt es, dass so viele Menschen so unverzeihlich sind bei Banalitäten wie z.B. einem geklauten Parkplatz? Ich will das gar nicht bewerten. Ich denke mir nur, es ist so schade, dass so viele sich da das Leben unnötig schwer machen. Viele Fragen, vielleicht habt ihr ja Antworten.
Danke. Liebe Grüße Stefanie
Liebe Stefanie,
bitte erwarten Sie von mir keine richtigen Worte.
Angesichts der Vernichtung des jüdischen Lebens durch die Generation unserer Groß- und Urgroßeltern während der Herrschaft des Nationalsozialismus fallen mir keine richtigen Worte ein. Richtig kann nur sein, sich an Gott zu wenden und zu stammeln: "Vergib uns unsere Schuld, unsere große Schuld."
Ich teile Ihr Erschrecken über diese Darstellungen im Kölner Dom. Natürlich bleibt jede Form eines Antisemitismus inakzeptabel. Egal, wann, durch wen und mit welcher Begründung Hetze gegen jüdische Mitmenschen und gegen das Judentum laut wird, muss der christliche Glaube widersprechen. Jeder Antisemitismus wendet sich auch gegen unseren eigenen Glauben und gegen die Idee einer verbindenden Humanität, von der wir in Europa leben.
Vor dem Hintergrund Ihres und meines Erschreckens habe ich die Homepage des Kölner Doms besucht. Die Kirchengemeinde ist sich offensichtlich bewusst, welche Botschaft das Fenster, das Sie gesehen haben, transportiert. Es heißt auf der Homepage: "Schließlich ist das erst in jüngster Zeit mit seinen latent antisemitischen Zügen entlarvte Bildprogramm des zwischen 1960 und 1965 entstandenen »Kinderfensters« als ein Zeugnis einer zur Schau getragenen vorgeblichen Ahnungslosigkeit der frühen Nachkriegsgesellschaft entlarvt worden. Für Christen ist es eine bleibende Aufgabe, nicht nur die abwertenden Stereotypen, Klischees und negativen Konnotationen der im Laufe der Jahrhunderte geschaffenen Bildwerke offenzulegen, sondern deren fatale Folgen in Erinnerung zu halten." Die Kirchengemeinde bietet einen Rundgang zum Thema "Der Dom und die Juden" an. Vielleicht mögen Sie, wenn Sie in der Nähe von Köln wohnen, diesen Rundgang einmal machen. Vielleicht fragen Sie dort einmal persönlich nach. Ich werde bei nächster Gelegenheit, wenn ich in Köln bin, diesen Rundgang machen.
Dass die Dom-Kirchengemeinde von einer "vorgeblichen Ahnungslosigkeit" schreibt, fasst die Stimmung der ersten Nachkriegsjahrzehnte so zusammen, wie ich sie persönlich auch erinnere. Viele Menschen gaben sich über Jahrzehnte ahnungslos und wussten doch, was sie gesehen, gewusst und getan hatten, konnten oder wollten aber nur schweigen. Ich habe als evangelischer Pastor manches Trauergespräch mit Hinterbliebenen geführt, die dieses Schweigen der Elterngeneration über den Mord an Millionen Juden schwer belastet hat.
Warum gehen Menschen trotzdem in den Kölner Dom, beten zu dem Gott, der Ablehnung und Hass noch immer nicht aus der Welt geschafft hat? Ich kann nur für mich persönlich antworten. Ich bitte Gott um Einsicht, möge Gott mir und anderen Menschen offene Augen und einen wachen Verstand geben, damit ich nicht in die Fallen renne, die menschenverachtende Ideologien aufstellen. Wenn ich dann vor dem Fenster, das Sie beschreiben, stehen werde, will ich die Darstellungen dort bewusst und mit wachem Blick ansehen, ich werde mich - vermutlich wie Sie - vor Scham über diese Bilder schütteln und Gott darum bitten, dass solche abwertenden Darstellungen endlich zu Zeugnissen einer dunklen Vergangenheit werden, wir in unserer Kirche aber an einer Zukunft arbeiten, die sich solchen Stereotypen für immer widersetzt.
Sie fragen, wieso Menschen so unverzeihlich sein können? Ich denke wir beide können daran mitwirken, dass unsere Gesellschaft etwas mehr von einer großen Verzeihung profitiert, die unsere persönlichen Interessen weniger wichtig nimmt, sondern Raum zu einem friedlicheren Zusammenleben eröffnet.
Ihnen eine gesegnete Zeit vor Ostern.
Ihr Henning Kiene