Was genau ist "Erbsünde"?

Allie
Eine Frau am Tisch, auf dem ein Apfel liegt
Foto: engin akyurt auf Unsplash
Was genau bedeutet "Erbsünde"? Ich habe dazu verschiedene Interpretationen gelesen, aber verstehe es immer noch nicht wirklich. Ist es nun so zu verstehen, dass wir "böse geboren", im Sinne von einem schon immer in uns vorhandenem "bösen Potenzial" zu verstehen oder beschreibt das Wort die Tatsache, dass wir von Anfang an unser Leben in schuldgeprägten Zusammenhängen verbringen (und sie schon daher weitertreiben)? Wie biblisch ist das Ganze am Ende überhaupt?

Lieber Fragesteller, 

Ihre Frage nach der "Erbsünde" überrascht mich nicht, denn die Suche nach der Schuld und den Schuldigen ist - gerade jetzt, in Zeiten der Krisen - allgegenwärtig. Ich habe aber den Eindruck, dass die Frage nach der eigenen, der persönlichen Schuld und Verantwortung häufig in den Hintergrund tritt. Schuldzuweisungen treffen eher die anderen und nicht mich selbst. Wer aber von der "Erbsünde" spricht, meint auch sich selbst, es geht um die persönliche Verantwortung. 

Das Wort "Erbsünde" kann aber auch zur Ausrede werden. Denn "Erbsünde" lenkt von der persönlichen Verantwortung, an der Sie und ich tragen, ab. Ich könnte sagen: "Ich bin eben potentiell böse und kann nichts dafür." Oder ich könnte sagen: "Die Verhältnisse sind eben so, nicht zu verändern und von der Schuld anderer geprägt, ich kann nichts dafür." Ob nun angeboren oder durch die Umstände bedingt, der Gedanke an die "Erbsünde" darf nicht zur Ausrede werden, um persönliches Fehlverhalten, Fahrlässigkeit und am Ende sogar Kriminalität zu entschuldigen. 

Aus der christlichen Sicht sollten Sie jede Form der Sünde nur in Verbindung mit der Vergebung Gottes sehen. Martin Luther legt den Hauptakzent des Glaubens statt auf die Sünde auf die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders und der Sünderin. Die Reformatoren stellen Gottes Heilshandeln an die erste Stelle und ordnen das Thema Sünde dem Thema Befreiung von der Sünde unter. Für die Reformatoren tritt die intensive Betrachtung  menschlichen Versagens hinter die innige Gottes- und die tätige Nächstenliebe zurück. Nur die Vergebung, so die Überzeugung, führt das gläubige Leben in die Freiheit.  

Der Begriff der "Erbsünde" versucht zu erklären, dass sich etwas Allgemeines des Menschseins im Leben jedes einzelnen Menschen bestätigt. Ich als einzelner Mensch bezeuge durch mein Handeln, auch durch meine Fehler, dass ich Teil Gemeinschaft aller Menschen bin. Ich ahme schlechte Personen freiwillig nach und gerate ja niemals zufällig in die Gesellschaft von Menschen, die ich besser meiden sollte. "Erbsünde" versucht den Umstand zu beschreiben, dass ich das Verhalten anderer Menschen durch mein Tun und Unterlassen zu meiner eigenen Angelegenheit mache. Genauso verwickle ich andere Menschen durch mein Verhalten in meine Angelegenheiten. Ich bin also mit allen anderen Menschen durch diese individuell Möglichkeit der Sünde verbunden. Es geht bei der "Erbsünde" also nicht um ein angeborenes Potential oder um den gesellschaftlichen Rahmen, in den hinein ich geboren werde, es geht um etwas, das allen Menschen allgemein ist. Der Apostel Paulus beschreibt das so: "Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ (Römer  11,32)

Gegenwärtig wird darum nicht mehr von der "Erbsünde" sondern von der "Grundsünde" gesprochen, die sich von den einzelnen "Tatsünden" unterscheidet. 

Ihre Zusatzfrage nach der biblischen Begründung führt natürlich zur Paradieserzählung in 1. Mose 2,4b–3,24, die traditionell als die Geschichte vom "Sündenfall" angesehen wird. Wenn Sie diese Geschichte aber von deren Ende her lesen, dann erfahren Sie, was erzählt werden soll. Die Sündenfallgeschichte erklärt den Leserinnen und Lesern die menschlichen Fähigkeit unterscheiden zu können. Den Unterscheid zwischen "gut" und "böse" zu kennen, nimmt uns Menschen in die Verantwortung. Denn: Das einzige Gebot, das im Paradies galt, verlangt keine besondere Anstrengung, die beiden Menschen hätten sich problemlos an dieses Gebot halten können. Die Geschichte vom Sündenfall thematisiert - so gesehen - die menschliche Freiheit mit ihrer Bestimmung zum Guten und den fatalen Hang sich in das Böse verwickeln zu lassen. Dass Gott schon beim "Sündenfall" rettend eingreift und die Menschen trotz der Last ihrer Schuld befreit leben lässt, tritt hier natürlich nicht in den Hintergrund sondern ist die ursprüngliche Idee dieser Erzählung. 

Wenn Sie sich auf der Homepage der EKD umsehen, dann kommen Sie zu der sehr lesenswerten und erläuternden Schrift: "Sünde, Schuld und Vergebung aus Sicht evangelischer Anthropologie", Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Ich hoffe, meine Antwort regt Sie zum Weiterdenken und zum Lesen in der Bibel und des Grundlagentextes der EKD an. 

Herzlich, Ihr Henning Kiene 

 

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