Christ ohne Jesus als Christus?

Sebastian Heinrich
Jesusfigur am Kreuz in ramponierter Kirche
Jon Tyson/Unsplash

Hallo Herr Muchlinsky,

vorab, meine Frage mag ein wenig weitschweifend und seltsam sein.
Um auszuholen, ich wurde römisch-katholisch erzogen und für Religion habe ich eigentlich nie viel übrig gehabt, dies war allerdings vor allem meinem jugendlichen Desinteresse geschuldet. Letztes Jahr bereiste ich mit meiner Freundin Israel/Palästina und hab mich aus Eigeninteresse in dem Zug auch wieder mit dem Christentum beschäftigt.
Ich glaubte eigtl. schon immer, dass es einen Gott gibt bzw. etwas Höheres. Auch kann ich der Bibel im übertragenen Sinne viel abgewinnen, also ihrer Symbolik und, dass die enthaltenen "Geschichten" durchaus ein Halt für heutige/aktuelle als auch persönliche Probleme sein kann.

Nun zum ersten "Haken", meiner Überzeugung nach ist die Bibel nur eine Sammlung verschiedener wenig überlieferter (vor allem bezüglich des Alten Testaments) Geschichten, die sich im besten Fall so ähnlich zugetragen haben. Theologische Deutungen hierbei scheinen ja auch in beide Richtungen zu gehen.

Ein weiterer und der wohl größte Haken ist der, dass ich mit der "Heldenverehrung" um Jesus in der Kirche nicht sonderlich viel anfangen kann.
Für mich persönlich war/ist Jesus weder der Sohn Gottes noch Heiliger, sondern eine Person, die das Judentum reformieren wollte, aber am "Widerstand" des römischen Staatsapparates, als auch den damaligen jüdischen Geistlichen "scheiterte". Also im übertragenen Sinne für die damaligen Sünden starb. Da es hierbei Parallelen zur heutigen Zeit gibt, empfinde ich es eben im übertragenen Sinne auch, dass er damals symbolisch für heutige Sünden starb. Ein Kreuz mit Jesuskorpus lehne ich daher auch ab, also nur mit Korpus jedoch nicht das Kreuz an sich.

Ein weiterer Punkt, der mich massiv ärgert, ist die katholische Kirche. Die, so wie es auf mich wirkt, oftmals Wasser predigt, aber Wein säuft. Sei es das absurd hohe Vermögen der Kirche, die reservierte Haltung gegenüber der Aufklärung der Kindesmissbrauchsfälle, der Limburg-Protzbau, die Zölibatsverpflichtung, oder dass man den PEGIDA-Demonstranten am Kölner Dom arg unchristlich das Licht abdrehte, anstatt auf sie zuzugehen und ihnen ein Gehör für ihre Ängste zu geben und ihnen diese zu nehmen. Dies seien nur einige Beispiele.

Zudem halte ich es auch eher mit der Evolutionstheorie anstatt der biblischen Entstehungsgeschichte. Wobei beides einmal dahin gestellt sei, keines von beiden kann bislang mit absoluter Sicherheit bestätigt werden, mag also auch sein, dass ich mich mit meiner Tendenz täusche.

Was im Endeffekt bleibt ist, dass ich eine Menge Dinge an der Kirche ablehne, aber auch mit einigen grundsätzlichen Dingen konform gehe bzw. etwas mit Ihnen anfangen kann. Was bin ich nun? Kann ich mich überhaupt als Christ bezeichnen oder betreibe ich Rosinenpickerei?

Vielen Dank im Voraus und schöne Grüße

Lieber Herr Heinrich,

es ist durchaus nicht ungewöhnlich, wenn man – auch als Christ – an dem einen oder anderen überlieferten Glaubensgrundsatz zweifelt. Die Unzufriedenheit mit einigen Ausdrucksformen der Kirche gehört erst recht zu einem lebendigen Christsein dazu. Immerhin hat sich die Kirche auf diese Weise immer wieder verändern können. Aus der Kritik am Vorhandenen entstanden unter anderem auch die evangelischen Kirchen.

Ich will Ihnen auch nicht vorwerfen, Sie würden sich aus dem Glaubenskuchen die Rosinen herauspicken. Das ist ebenfalls eine sehr normale Glaubenshaltung, dass wir uns das, was uns Schwierigkeiten bereitet – sei es, weil sich unser Verstand sträubt, sei es, weil wir eine andere Moralvorstellung haben – zunächst beiseite lassen, damit wir das, was übrig bleibt, auch wirklich glauben und bekennen können.

Sie schreiben viel von Symbolik und stoßen sich trotzdem an der Schöpfungsgeschichte, weil Sie – selbstverständlich als Mensch im 21. Jahrhundert – die Evolutionstheorie für plausibel halten. Ich kann Sie nur ermutigen, die Bibel genau anzuschauen und das zu entdecken, was Sie als die "Symbolik" bezeichnen. Ich bin ebenfalls der festen Überzeugung, dass die Bibel nicht an historischen Wahrheiten interessiert ist (vor allem nicht, wenn es um die Urgeschichte geht), sondern dass die biblischen Texte dazu da sind zu erzählen, wie – nach Meinung der Autoren – sich Gott den Menschen gezeigt, offenbart hat.

Hier kommen wir nun allerdings an einen Punkt, an dem sich unsere Wege trennen, lieber Herr Heinrich, denn ich glaube daran, dass Gott sich den Menschen in einzigartiger und endgültiger Weise in Jesus Christus offenbart hat. Was Sie eine Heldenverehrung nennen, ist für mich die Grundlage des christlichen Glaubens überhaupt. Jesus von Nazareth, also der Mann, den Sie im Blick haben, der in Israel lebte und wirkte, ist für mich lediglich eine Seite der größten Sache der Geschichte. Nach dem christlichen Glauben war dieser Mensch gleichzeitig Gott höchstpersönlich. Sein Tod und seine Auferstehung sind also weit über das historische Ereignis vor 2000 Jahren hinaus bedeutsam.

Dennoch spreche ich Ihnen nicht Ihr Christsein ab. Das steht mir nicht zu. Schön ist, dass Sie Ihre Gedanken aufgeschrieben haben. Das heißt ja, dass Sie sich Gedanken machen. Schauen Sie ruhig weiterhin, an welchen Stellen Sie andocken möchten, und wo Sie Ihre Bedenken haben. Mein Tipp, wenn ich einen geben darf: Reden Sie mit anderen Menschen über das, was sie glauben und über Ihre Bedenken. Am besten mit solchen Leuten, die ein bisschen anders denken als Sie, dann ist es am anregendsten.

Herzliche Grüße

Frank Muchlinsky

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