Sehr geehrter Herr Hohmeyer,
die Frage nach einem Sinn, der mit einer Krankheit verbunden sein könnte, begleitet unser Menschenleben. Sie ahnen sicherlich, dass auch Ihr Team von fragen.evangelisch.de hier ratlos ist. Ihre Frage wird aber umso bedrängender, je näher einem eine kranke Person steht. Als ich als junger Pastor einen noch jüngeren Menschen, der an HIV/AIDS litt, beerdigen musste, traf mich diese Frage ins Herz. Da standen Eltern, Großeltern, Geschwister am Grab und mussten ihr Kind, Geschwister und Enkelkind - das noch so viel Leben vor sich gehabt hätte - beerdigen. Tiefer kann der Einschnitt in das Leben einer Familie nicht sein. In diesem Moment trat die Frage nach der Krankheit und der Todesursache vollständig in den Hintergrund. Im Vordergrund stand: Ein Mensch, dessen abgebrochenes Leben, trauernde Mitmenschen und die Hoffnung auf ein Leben, das den Tod überdauert.
Die Heilungsgeschichten, die die Evangelien überliefern, weisen auf die Erlösungsbedürftigkeit des einzelnen Menschen hin und in der Heilung der Krankheit wird der ursprüngliche Wille Gottes erkennbar. Übrigens sind alle Menschen, auch die körperlich gesunden, auf solche Heilung angewiesen. Krankheit steht also nicht nur für körperliche Gebrechen, sie weist auf eine gestörte Beziehung zu Gott hin. Diese gestörte Beziehung zu Gott ist aber nicht Gottes Wille. Jesus wehrt sich, er zeigt uns den Willen Gottes, er wehrt sich gegen die Verurteilung der Menschen, die Opfer eines Unglücks sind (Lk 13,4). Und als Jesus einen Blinden heilt sagt er: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm." (Joh 9,3) Jesus beauftragt seine Jünger mit der Fürsorge für die Kranken. Für mich gehört es noch immer zu den großen Überraschungen, die der christliche Glaube bereit hält, dass Jesus statt nach der Krankheit und der Schuld zu forschen, von der Heilung spricht und die schon die aufkeimende Schuldfrage durch sein Evangelium auflöst. (z.B. Mk 2)
Als es gegen HIV/AIDS noch keine wirksamen Medikamente gab, formuliert die EKD 1988 in einer der ersten Stellungnahmen: "Krankheit ist im christlichen Verständnis zwar eine Störung der guten Schöpfung Gottes; sie ist ein Übel, das nicht sein soll. Im Reich Gottes ist die Krankheit überwunden. Gleichwohl besteht nach christlichem Verständnis der Sinn eines menschlichen Lebens nicht in seiner Gesundheit. Krankheit ist in den Sinn des ganzen Lebens, dessen Teil sie ist, einbezogen." https://www.ekd.de/III-Orientierungen-1132.htm (AIDS - Orientierung und Wege in der Gefahr. Eine Kirchliche Stellungnahme, 1988) Das Bemühen ist deutlich: Auch in Zeiten einer Epidemie und massenhafter Erkrankungen, bleibt der Glaube an den Willen Gottes, der Heilung sucht, gebunden.
Zum Glück sind mittlerweile die Medikamente so weit entwickelt, dass HIV/AIDS Infizierte weitgehend normal leben können. Dennoch bleibt HIV/AIDS vor allem in den Ländern ein Problem, in denen für infizierten Menschen keine Medikamente zur Verfügung stehen. Das gilt natürlich auch für die Syphilis, die Sie benennen. Gute Medikamente helfen, die Krankheit zu überwinden aber Medikamente sind an vielen Orten Mangelware. Auch sorgfältige Aufklärung über Infektionswege und aktiver Infektionsschutz sind zu einer dauerhaften Aufgabe geworden, die in die kirchliche Arbeit Eingang gefunden hat.
Vor dem Hintergrund der Heilungsgeschichten der Bibel zeigt sich wie erlösungsbedürftig jeder Mensch ist und dass jeder kranke Mensch auch auf die Zuwendung der Gesunden angewiesen ist. So formuliert die EKD im Jahr 2008 in einer Studie zum Thema HIV/AIDS https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte91.pdf (Für ein Leben in Würde Die globale Bedrohung durch HIV/Aids und die Handlungsmöglichkeiten der Kirche, 2008): "Der christliche Glaube lebt in der Hoffnung, die Ausschau hält und bereit macht, das Mögliche und Notwendige heute und morgen zu tun: ohne Scheu vor Schwierigkeiten, in tatkräftiger Verantwortung nach Möglichkeiten, der Krankheit vorzubeugen, ihre Schrecken zu bekämpfen, ihrer zerstörerischen Macht zu begegnen." (Seite 49)
Es war ein langer Lernprozess bis in den Kirchen Krankheiten nicht mehr als Strafe oder sogar als Wille Gottes gepredigt wurde, sondern die Kirchen Aufgabe in der fürsorgenden Nächstenliebe erkannt haben. Die Kirche sei eine "heilende Gemeinschaft" heißt es in der Studie der EKD und der Hinweis, dass viele Kirchen der Ökumene diese Formulierung gemeinsam geprägt haben, fehlt nicht.
Der Widerspruch, den Sie beschreiben, lässt sich also nur in eine Richtung auflösen. Statt den Willen Gottes in menschlicher Krankheit zu suchen, ist der Wille Gottes in der Heilung und gegenseitigen menschlichen Fürsorge zu erkennen. Jesus formuliert den Willen Gottes so: "Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt." (Mt 11, 5).
Herzlich grüße ich Sie, Ihr Henning Kiene