Sehr geehrter Herr Muchlinsky,
mein Kollege sagte gerade zu mir "Wenn ich nicht Protestant wäre, würde ich ja mit Ihnen wetten..." Nun bin ich auch Protestant und wette gerne - gerade habe ich die Wette (und eine Flasche Champagner) verloren. Gibt es einen Anhaltspunkt, warum es für Christ:innen oder Protestant:innen sich nicht ziemt zu wetten? Wobei mir bei Ihrer Antwort eine einzelne Passage aus dem AT wohl als Begründung nicht reichen würde - da steht ja so einiges, das ich in meinem täglichen Leben weder bisher noch künftig als Maxime meines Handelns sehen mag.
Lieber Martin,
es gibt eine Menge an ernsten Regeln im Alten wie im Neuen Testament. Aber weder in den Gesetzen des Alten Testaments noch in den Ratschlägen, die Paulus und die anderen Briefeschreiber des Neuen Testaments ihren Gemeinden geben, findet sich etwas Eindeutiges zum Thema Wetten. Wenn Ihr Kollege also sagt, "als Protestant" dürfe er nicht wetten, meint er sehr wahrscheinlich eine Regel, die sich traditionellerweise eingebürgert hat. Man sagt den Protestanten ja einen gewissen Hang zur Askese nach, und das hat ja auch durchaus Anhaltspunkte, nicht zuletzt in dem Zweig des Protestantismus, der seinen Ursprung in der schweizerischen Reformation hat. Wenn man nun das Wetten als "Glücksspiel" versteht, so ist es wohl nachvollziehbar, dass streng gläubige Protestanten sich eines solchen Lasters enthalten möchten. Ich bin auch sicher, dass es entsprechende Bibelstellen gibt, die man heranziehen kann, um das Wetten abzulehnen.
Oder vielleicht geht es in der Ablehnung des Wettens theologisch auch um die Tatsache, dass man mit dem "Vorhersagen der Zukunft" Gott ins Handwerk pfuscht. Ehrlich gesagt halte ich die Aussage Ihres Kollegen eher für einen flotten Spruch, mit dem er sich der Verlockung entziehen wollte und dem Risiko zu verlieren. Natürlich kann auch das Wetten zu einer "verhängnisvollen Leidenschaft" werden, zu einer Sucht, und gegen die sollte man sich nicht nur als evangelischer Christ wenden. Hier kämen dann auch die Ermahnungen eines Paulus zur Geltung, wie "Offenkundig sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen und dergleichen." (Galater 5,19-21) In solchen Listen wird deutlich, dass es Paulus und den biblischen Autoren insgesamt vor allem um ein Übermaß geht, das sie ablehnen. Ihre Flasche Champagner, die sie verloren haben, wird Ihnen Gott im Jüngsten Gericht vermutlich nicht vorhalten. Und dem Gewinner der Flasche wird der Inhalt hoffentlich einfach gut schmecken und nicht in die Trunksucht, oder wie Luther es übersetzt, ins Saufen treiben.
Nun kann natürlich auch Wetten zur Sucht werden. Gerade Sportwetten sind derzeit sehr beliebt. Anders als beim reinen Glücksspiel haben hier die Teilnehmenden ein Gefühl der Kontrolle, das freilich eine Illusion ist. Man überschätzt sich selbst und steigert entsprechend leicht die Wetteinsätze. Vor solchen Wetten warnen nicht nur Protestant:innen.
Wetten Sie aber gern fröhlich mit Ihrem Kollegen (und selbstverständlich mäßig) weiter und freuen Sie sich, wenn Sie wieder eine Flasche verlieren! Oder vielleicht gewinnen Sie ja auch mal.
Herzliche Grüße und eine gesegnete Zeit!
Frank Muchlinsky