Meine Familie hat ihr Christsein nie aktiv ausgelebt: Kirchliche Lebensstationen wie Taufe, Konfi ja, Heiligabend in die Kirche, aber mehr nicht. Ich war freiwillig auf Freizeiten, in christlichen Chören und durch Schule/Musikschule mit den Pfarrerskindern zusammen. Es war eine schöne Zeit. Mit 20 bin ich zum Studium weggezogen und habe den Anschluss an eine neue Gemeinde verpasst.
Letztes Weihnachten hatte ich einen seelischen Zusammenbruch: Erinnerungen der Ablehnung, Angst, Ausnutzung der vergangenen Jahre kamen hoch. So kam der Gedanke auf, der Gemeinde vor Ort einen Besuch abzustatten, um dieses Gemeinschaftsgefühl von früher aufleben zu lassen.
Früher hat niemand gefragt, wie tief man glaubt, ob man vor dem Essen betet, wie oft man die Bibel liest. Man wurde von den anderen so angenommen, wie man war, weil es um die gemeinsame Zeit z.B. im Chor ging. Da war es egal, dass ich zu dick und schlecht in Mathe war. Das hat mir damals gefallen.
Um nicht negativ aufzufallen, lese ich seit einiger Zeit christliche Bücher, um mein Wissen aufzufrischen, bevor ich wirklich den ersten Schritt zur Gemeinde gehe.
Im Internet gibt es unzählige Erklär-Videos von jungen Theologen, darunter auch mit brisanten Themen wie „Sex vor der Ehe“ oder „Christ und nichtchristlicher Partner“. Oder dass sie bei Kinofilmen mit Nacktszenen wegsehen. Das hat mir das Gefühl gegeben, etwas Falsches getan zu haben. Ich habe drei kinderlose Partnerschaften gehabt und nicht geheiratet, in den Videos wird das als schwere Sünde angesehen. Für mich war und ist das „normal“ (für Christen, die ihren Glauben nicht aktiv leben).
Ich glaube schon an Gott und bin dankbar für alles, was er mir schenkt. Ich würde mir wünschen, dass Gott bei mir ist, damit ich mich weniger einsam fühle und mir bei der Bewältigung meiner Angsterkrankung und der Angst vor Ablehnung hilft.
Die Jugendlichen und meine Heimatgemeinde früher haben mich nie abgelehnt oder verurteilt, Glauben und Gemeinschaft eher mit gutem Beispiel vorgelebt.
Aber diese Videos haben mir traurig gestimmt, weil sie mir das Gefühl geben, im Vergleich zu streng gläubigen Christen schlechter wegzukommen. Ich weiß weniger, handle schlechter, kann weniger enthusiastisch über meinen Senfkorn-Glauben sprechen.
Natürlich sollte man im Glauben stetig wachsen, die Bibel studieren, sich austauschen.
Angenommen ich lerne einen nichtchristlichen Partner kennen. Sinkt dann mein „Ansehen“/Wohlwollen in der Gemeinde, weil man eben nicht bibeltreu lebt? Diese Fragen beschäftigen mich sehr. Ich danke Ihnen herzlich für die Antwort.
Liebe Angelika,
entschuldigen Sie bitte, dass Sie etwas auf unsere Antwort warten mussten! Das ist in der Tat eine unangenehme Situation, in die Sie geraten sind. Evangelische Kirchengemeinden unterscheiden sich in ihrem Frömmigkeitszuschnitt teilweise sehr stark voneinander. Offensichtlich sind Sie in einer Gemeinde gelandet, der es sehr darauf ankommt, möglichst einer bestimmten Auslegung der Bibel zu folgen. Gemeinden, oder auch Christenmenschen, die sich selbst als „bibeltreu“ bezeichnen, propagieren in der Regel eine konservative Haltung, die der einer Gesellschaft im 19. Jahrhundert entspricht: Strikte Sexualmoral und Autoritätshörigkeit prägen solche Gemeinschaften. Ebenso ein Familienbild, das außer „Vater, Mutter, eigene Kinder“ nichts gelten lässt.
Begründet wird diese Haltung durch Hinweise auf die Bibel. Allerdings sind diese Hinweise meistens aus dem Zusammenhang gerissen und werden vor allem nicht in ein gesamtbiblisches Bild gestellt. Diese Art der Bibelauslegung ist darum unredlich. Sie benutzt die Bibel, um Richtlinien für die eigenen Werte zu finden. Dass die Bibel aber eine Gesamtkomposition ist, die von der Heilstat Gottes an seiner gesamten Schöpfung spricht, gerät dabei in den Hintergrund. Dieser theologische Aspekt wird erst dann wieder hervorgeholt, wenn es darum geht, Menschen, die nicht in der Art und Weise glauben und leben, wie man das möchte, auszugrenzen. Das funktioniert dann so:
Gott hat seinen Sohn Jesus Christus in die Welt gesandt, alle Menschen zu erlösen. Dafür muss man ihn aber als diesen Erlöser annehmen. Wer das nicht tut, der at sich eben gegen Jesus entschieden und wird bestraft werden. Wer sich für Jesus, wird sich and die Regeln halten, die ihm die Autoritäten der eigenen Gemeinschaft vorschreiben. Zweifel an deren Auslegungen werden als Zweifel an der Bibel selbst gedeutet. Man wird der Bibel also „untreu“. Auf diese Weise erhalten sich die Autoritäten dieser Gemeinden ihre Macht.
Wenn Sie sich in dieser Gemeinschaft nicht wohlfühlen, ist das nicht Ihre Schuld. Es liegt daran, dass Sie die richtigen Fragen stellen: Wie kann Gott eine Gemeinschaft wollen, in der man sich ständig ausgegrenzt fühlt, sobald man nicht den Maßstäben entspricht, die hier gelten? Der christliche Glaube sagt doch: Jeder Mensch ist von Gott geliebt, ganz gleich, wie gut er in Mathe ist, oder welche Körperform er hat. Und das bezeugt die Bibel. Zunächst einmal bist Du richtig und von Gott gewollt, so wie Du bist. Gottes Liebe zu jedem einzelnen Menschen ist unendlich.
Natürlich gibt sich jede Gemeinschaft Regeln, an die sich alle zu halten haben. Wenn es aber verboten wird, diese Regeln zu hinterfragen, wenn sie nicht guttun, wird diese Gemeinschaft toxisch. „Bibetreue“ ist ein Kampfwort. Im Grunde genommen ist es eine Verwandte der „Nibelungentreue“, „eine Form bedingungsloser, emotionaler und potenziell verhängnisvoller Treue“ (Wikipedia).
Die Bibel will nicht geheiratet werden, auf dass man ihr ewige Treue schwöre. Sie will gelesen werden, und wer die Bibel liest, interpretiert sie automatisch. Für diese Interpretation kann man sich Regeln geben, aber diese Regeln sind in jedem Falle menschlich und also hinterfragbar.
Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, lieber in eine Gemeinde zu wechseln, die von der Liebe Gottes überzeugt ist und nicht so sehr von einer bestimmten Interpretation der Bibel.
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und einen guten Weg!
Frank Muchlinsky