Kreuzigung Jesu - warum hat Gott das zugelassen?

Philip
Detail einer Dornenkrone.
© Getty Images/iStockphoto/g215

Liebes Redaktionsteam, 
warum hat Gott zugelassen, dass sein eigener Sohn gekreuzigt wurde? Er hätte doch die Möglichkeit dazu gehabt, sein Kind zu retten. Wir würden doch auch unser Kind retten, wenn es in einer Notlage wäre und wir die Möglichkeit dazu hätten. Ist Gott vielleicht nicht allmächtig oder wollte er nicht? Oder ist die Tatsache, dass Gott Jesus nicht geholfen hat möglicherweise auch ein Hinweis darauf, dass Gott am Ende gar nicht existiert? Über Ihre Gedanken zu meiner Frage, würde mich interessieren. 
Mit besten Grüßen, Philip

Lieber Philip, 
Ihre Frage ist wie die Zwickmühle in einer Partie Mühle, jede Antwort auf Ihre Frage bleibt ein riskanter Versuch. Drei Antworten versuche ich, ich weiß, es gäbe noch viele weitere Antworten. 

Zunächst die erste Antwort. Gott trägt für die Hinrichtung Jesu keine Verantwortung. Der Prozess, der Jesus gemacht wird, wird von Menschen geführt, es sind Menschen, die zu Gericht sitzen und es sind Menschen, die ihn am Kreuz hinrichten. Das Leiden Jesu ist also nicht von Gott gemacht, sein Tod ist das Werk menschlicher Willkür. Gegenfrage an Sie: Warum greifen hier die Menschen, die das sehen, nicht ein? Das ein Mensch dem anderen Menschen hilft, wäre selbstverständlich.  Warum helfen sie Jesus nicht vom Kreuz herab und beenden den Wahnsinn? 

Jesus erlebt also genau den Alltag, den wir kennen: Menschliches Unrecht bedrängt andere Menschen, verletzt, tötet. Nun trifft sie ihn: die von Menschen gemachte Not. Viele leidende Menschen erkennen sich selbst im Leid Jesu wieder. Jesus ist hier näher als ein abstrakter Gott. Der Glaube antwortet auf Jesu Sterben mit einem Zitat aus dem Jesaja-Buch: "Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen." (Jesaja 53,4+5) Also: Es sind Menschen, die schlagen, verwunden, töten und sie treffen Jesus mit ihrem schäbigen Tun. 

Zweite Antwort: Wenn Menschen das Leid und Sterben Jesu verursachen, dann passiert etwas mit Gott. Offensichtlich fühlt Gott sich in Jesus hinein und leistet in Sachen Mitleid Pionierarbeit. Mitleid entwickelt Gott in sich selbst. Gott spürt echtes Mitleid und macht es zu einem Teil unseres persönlichen Glaubens. Die Evangelien erkennen in Gottes Mitleiden eine gewaltige Kraftanstrengung, sie zeigen uns in Jesu Todesstunde mächtige Bilder, die Evangelien sprechen von Erdbeben, Dunkelheit, offenen Gräbern (siehe z.B.: Matthäus 27,51). 

Wenn ich das in der Bibel lese, dann denke ich an Eltern, die ich in Sorge um ihr todkrankes Kind erlebt habe und an manches viel zu jung verstorbene Kind, das ich auf dem Weg zum Grab begleitet habe. Eltern erleben eine so grundlegende Erschütterung wie ein Erdbeben, die ihr ganzes Lebens ergreift, und ich hoffe, dass Gott das alles mit ihnen erträgt. Gott rettet also nicht vor dem Leid, sondern sein Mitleid weist neue Wege. 
Sie könnten jetzt sagen: "Zu spät. Gott hätte es ja nicht auf die Spitze treiben müssen." Das ist die Zwickmühle. Viele Menschen suchen Trost und hoffen, dass sie Gottes Mitleid in ihrem Leben hautnah spüren. Ein mitleidender Gottes ist für den persönlichen Glauben oft hilfreicher als ein wütender Gott. Das hat der Gesangbuchdichter Paul Gerhard so besungen:

"Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir;
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür;
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!" (siehe: Evangelisches Gesangbuch 85)

Dritte Antwort: Jesus setzt sich der tödlichen Gottverlassenheit aus und Gott schafft in dieser Situation eine neue Gottesbeziehung. Das Kreuz Christi wird zum Schlüsselmoment.  Jesu eröffnet einen Zugang zur Erkenntnis Gottes. In seiner Fähigkeit zum Mitleid zeigt Gott seine echte Allmacht. Unsere Kirche kommt mit ihrer Bereitschaft zum Mitleid mit den leidenden Menschen ihrem ursprünglichen Auftrag immer noch am nächsten. 

Ich saß vor einigen Wochen in einer Kirche und nahm am Gottesdienst teil. Mein Platz war direkt vor einem riesigen, leidenden Christus, dem musste ich eine Stunde lang in sein geschundenes Gesicht sehen. Mir gingen all die großen Elendsszenen durch den Kopf: Kriegsbilder, Hunger, Fluchtopfer an der Grenze. Dass ausgerechnet Gott so ein leidendes Angesicht trägt? Da muss man schon tief durchatmen. Und Paul Gerhard dichtet: 

"Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und lass mich sehn dein Bilde
In deiner Kreuzesnot!
Da will ich nach dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
Dich fest an mein Herz drücken.
Wer so stirbt, der stirbt wohl." (siehe: Evangelisches Gesangbuch 85)

In unserer Not ist Gott ein naher Gott, er greift tröstend ein, macht uns fähig Mitleid zu haben und lässt uns handeln. Diese Nähe Gottes zu dem leidenden Jesus ist das, was ich als seine Allmacht verstehe. Diese Nähe ist im Glauben lebendig. 

Herzlich grüße ich Sie, Ihr Henning Kiene 
 

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