Liebe Frau Scholl,
Ich leide sehr , weil meine Mutter verstorben ist. Ich habe Schuldgefühle, für sie zu wenig getan zu haben, wobei andere sagen, ich habe sehr viel für sie getan. In mir kommen alte Sachen hoch, wo ich nicht gut zu ihr war, bereinigten es aber damals schon, trotzdem...
Kann mir meine verstorbene Mutter verzeihen? Kann ich mit ihr reden? Was ist mit ihrer Seele, wo ist sie? Ist sie traurig? Macht sie mir Vorwürfe?
Brigitta
Liebe Brigitta,
mein herzliches Beileid wegen des Todes Ihrer Mutter. Ihre Zeilen haben mich sehr berührt und beim Lesen meine ich etwas von Ihrem Schmerz erahnen zu können und auch davon, wie bedrängend die Fragen für Sie sein müssen, die Sie sich stellen.
Sie schreiben von Schuldgefühlen, die Sie ihrer verstorbenen Mutter gegenüber empfinden, für Dinge, die Sie gesagt, getan oder nicht getan haben. Sie schreiben auch, dass Sie Vieles zu Lebzeiten bereinigen konnten, als in Ihrer Beziehung etwas schief gelaufen war. Wie gut, dass das gelungen ist. Und Sie schreiben, dass Andere sagen, dass Sie viel für Ihre Mutter getan haben, obwohl Sie selbst meinen, es könnte zu wenig gewesen sein. Wie gut, dass Andere das wahrnehmen und es Ihnen auch sagen und Sie damit stützen wollen in ihrer schmerzvollen Situation.
Doch bei all dem scheint mir ein kleines Wörtchen, das Sie schreiben, sehr wichtig und auch machtvoll zu sein: „trotzdem“. Trotz all dem, was Sie selbst und Andere wahrnehmen, bleibt da die große Trauer über das, was Ihrer Mutter und Ihnen in ihrer Beziehung miteinander misslungen ist. Trotzdem.
Unsere zwischenmenschlichen Beziehungen sind so verletzlich. Gerade bei denen, die wir lieben, geschieht es am schnellsten, dass wir Ihnen wehtun. Wenn der geliebte Mensch stirbt, dann kommen all diese Brüche und Wunden nochmal an die Oberfläche. Das tut weh. Aber das ist auch ein Ausdruck dessen, dass wir uns nochmal berühren lassen von der gemeinsamen Geschichte mit den Höhen und Tiefen, die wir mit diesem Menschen hatten. Es ist Liebe, was sich da so schmerzhaft anfühlt.
Sie wünschen sich, dass Ihre verstorbene Mutter Ihnen verzeiht. Vielleicht geht es aber doch eher darum, dass Sie sich Gesagtes und Nicht-Gesagtes selbst verzeihen. Wenn Sie schreiben, dass Sie Vieles gut mit ihr zu Lebzeiten bereinigen konnten, dann scheint doch ihre Mutter Ihnen schon längst verziehen zu haben, was es zu verzeihen gibt.
Ihre Mutter ist so präsent in ihrem Herzen und in ihrem Leben, wie sollte es da nicht möglich sein, dass Sie mit ihr reden. Sagen Sie ihr, was Sie auf dem Herzen haben, erzählen Sie ihr von dem, was Sie umtreibt. Vielleicht gibt es einen besonderen Ort, den Sie sehr mit Ihrer Mutter verbinden. Dort kann das leichter sein.
Wo Ihre Mutter jetzt ist, fragen Sie sich und mich. Als Christin glaube ich an ein Leben nach dem Tod. Wie dieses Leben nach dem Tod aussieht, kann ich Ihnen auch nach vielen Jahren Theologiestudium nicht genau sagen. Aber mit einer Gegenfrage will ich Ihnen antworten: Wie würde denn für Ihre Mutter der Himmel aussehen?
Solche Bilder sind es, durch die wir eine leise Ahnung von einem Leben nach dem Tod erhaschen. Vor einigen Jahren ist mein Vater verstorben. Er hat vorher sehr lange an einer Lungenkrankheit gelitten. So lange er es konnte, was er gern an der Ostsee. Wenn ich mir den Himmel für meinen Vater vorstelle, dann sehe ich ihn oben auf der Düne, mit nackten Füßen im Sand, den Blick aufs Meer und er kann tief durchatmen. Wie sähe für Ihre Mutter der Himmel aus, was glauben Sie?
Wie auch immer dieser Himmel aussieht und wie er sich anfühlen mag. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Mutter traurig ist und Ihnen Vorwürfe macht. Aber Sie sind traurig und machen sich scheinbar Vorwürfe. Das schmerzt.
Ich möchte Ihnen einen Vers mit auf den Weg geben, der mir selbst viel bedeutet. Es ist ein Satz aus dem 139. Psalm: „Alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ (Ps 139,16) Für mich ist das eine Erinnerungen daran, dass auch all die offenen Wunden, all das, was hätte gesagt werden sollen und nicht gesagt wurde, angesehen wird von Gott. Und dass er all das liebevoll in seiner Hand hält: das Gelungene und das Beschädigte.
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen für Ihren weiteren Lebensweg und Menschen an Ihrer Seite, die Ihnen in dieser Zeit beistehen.
Herzlich
Katharina Scholl