Darf ich als Christin Selbstverteidigung anwenden?

Christin
Junge Ladyguards lernen Selbstverteidigung.
epd-bild/Stephan Wallocha
Hallo liebes Team, ist Selbstverteidigung eine Sünde? Natürlich nur im Notfall, nicht einfach so. Ich rede wirklich von Gewaltangriffen. Darf man dann als Christ Selbstverteidigung anwenden? Danke und liebe Grüße

Liebe Christin, 

ob sich ein Christ und eine Christin wehren darf? Oder muss ich, wenn man mich auf die rechte Wange schlägt, immer auch noch meine linke Wange hinhalten und meinen Schmerz und meine Erniedrigung selbst mehren? Bitte setzen Sie sich mit Worten zur Wehr, suchen Sie sich Unterstützung und versuchen, Gewaltangriffe, denen Sie ausgesetzt sind, abzuwenden. Bitte lassen Sie sich nicht einreden, dass Sie nicht so zimperlich sein sollen! Und: Bitte haben Sie kein schlechtes Gewissen, dass Sie sich zur Wehr setzen. Wenn alle Mittel, die ohne den Einsatz körperlicher Gegenwehr auskommen, ausgeschöpft sind, dann sollten Sie an aktive Selbstverteidigung denken. 

Rechtlich ist es eindeutig: Wenn Sie mit Worten, Ihrem "Nein", dem "Stopp" nicht weiter kommen, dann  haben Sie das Recht, sich selbst - aber auch andere Personen - vor einem Angriff auf Ihr Leben, Ihre Freiheit, Ihr Eigentum, sogar auf Ihre Ehre zu verteidigen. Aber die Grenzen sind durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eng gesetzt. Ihre Reaktion auf einen Angriff darf das Ausmaß der Gewalt, die gegen Sie angewendet wird, nicht übersteigen. Wer die Kontrolle über sich verliert, macht aus der Notwehr schnell eine Straftat. Das ist ja ein Ziel der Kurse, in denen Selbstverteidigung unterrichtet wird: Man lernt die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Selbstverteidigung ist also kontrolliert eingesetzte und begrenzte Gewalt. Selbstverteidigung ist vom Staat erlaubt und die großen Kirchen lassen diese Form der Gewaltanwendung zu. 

Ist Selbstverteidigung in der christlichen Ethik erlaubt? Sollen Sie ihre rechte und dann die linke Wange hinhalten, Gewalt wortlos erleiden und wehrlos ertragen? 

Martin Luther unterscheidet zwei Regimenter Gottes, man spricht von dem „Reich Gottes“, dem wir, alle Christinnen und Christen, angehören, und dem „Reich der Welt“, dem alle Personen zuzurechnen sind, auch die, die nicht christlich sind. Wir leben alle gemeinsam im "Reich der Welt". Und diese Welt darf nicht im Chaos böswilligen Handels versinken. Kurz: Das Böse, die Gewalt, muss - im Notfall auch durch Gewalt - begrenzt werden. Wir, Sie, Christinnen und Christen haben hier einen Auftrag, wir sollen Gewalt schon im Keim ersticken und durch unsere Lebenshaltung wird das Evangelium Jesu hoffentlich weithin Christi sichtbar. 

Hierhin führt Ihre Frage: Wenn Selbstverteidigung böswilliges Handeln vereitelt, ist sie Ihnen geboten, denn Sie verteidigen ihre persönliche Autonomie und bekämpfen das Böse. Aber: Zugleich sind Sie Zeugin Ihres Glaubens. Darum ist es wichtig, dass vor der körperlichen Selbstverteidigung ein klares "Nein" und "Stopp" ausgesprochen wurde und Gewalt begrenzt bleibt, also immer nur Selbstverteidigung ist. Rache und Vergeltung sind uns grundsätzlich verboten. 

Ein letzter Gedanke: Es gibt den Begriff des "gewaltfreien Widerstandes". Martin Luther King, der baptistische Pastor und Menschenrechtler hat die Idee der Gewaltfreiheit mit Leben gefüllt. King beschreibt diese Gewaltlosigkeit so: "Die Methode ist körperlich passiv, aber geistig stark aktiv. Es ist keine Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen, sondern aktiver gewaltloser Widerstand gegen das Böse." Also kann Selbstverteidigung auch gewaltlos bleiben, aber sie steckt erlittene Gewalt nicht wortlos weg, sondern leistet - auf eine überraschende Weise - Widerstand, macht das Unrecht und Böse sichtbar, peinigt die Gewissen der Täterinnen und Täter. So verstehe ich Jesus, wenn er fordert, die rechte und die linke Wange hinzuhalten, damit aber stellt er den Täter oder die Täterin in ihren Tun öffentlich bloß. Es ist in jedem Fall wichtig, dass die Gewalt, die Sie erleben, erkennbar ist wird und es auch zur Anklage kommt. 

Eine Bitte an Sie: Sollten Sie aktuell Gewalt erfahren und nicht wissen, wie Sie sich zur Wehr setzen können, dann suchen Sie Rat. Es gibt gute Beratungsstellen in Ihrer Nähe, Ihre Ärztin, auch die Polizei könnte Sie beraten, vielleicht brauchen Sie tatsächlich Unterstützung vom Staat. Das ist die wichtigste Selbstverteidigung, wenn Sie erlebte Gewalt nicht stumm erdulden, sich - im schlimmsten Fall - auch noch schämen für die Täter:innen. Unrecht kann nur bekämpft werden und zum Glück gibt es viele Mittel und Selbstverteidigung ist eins dieser Mittel. 

Herzlich grüße ich Sie, Ihr Henning Kiene

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