Wir haben uns gefragt: Gibt es eigentlich "christliche Werte"? Wenn ja, welche wären das? Und wie würden sie begründet werden?
Lieber Christian, liebe Ellen,
leider kann ich euch nicht mit einer Doktorarbeit antworten. Eine solche könnte man über dieses Thema aber schreiben, so viel wurde schon darüber nachgedacht. Zusammengefasst würde ich sagen, dass es wenig hilfreich ist, christliche Werte definieren zu wollen. Ich möchte das mit zwei Gedanken begründen:
In der Wortgruppe „christliche Werte“ steckt schon drin, dass es Werte im Christentum gibt, die sich von anderen Werten unterscheiden. Viel bemüht wurde die Phrase „christliche Werte“ als nach 2015 viel diskutiert wurde, wer nach Deutschland kommen darf und wer nicht. Christlichen Werte wurden in dieser Debatte vor allem zur Abgrenzung beziehungsweise zur Ausgrenzung angeführt. Inhaltlich gefüllt wurden sie kaum. Das hat, glaube ich, auch seinen Grund: auf einige Werte könnten sich viele Christ:innen einigen. Das wären vielleicht so allgemeine Dinge wie Liebe, Barmherzigkeit und Treue. Selbst das wäre vielleicht schon schwierig. Vor allem stellt sich die Frage, was das zu spezifisch christlichen Werten macht. Natürlich sind das Vorstellungen, die man aus dem christlichen Glauben heraus gewinnen kann, von denen in der Bibel die Rede ist. Aber das gleiche könnte man vermutlich in jeder anderen Weltanschauung feststellen. Es gibt bestimmte moralische Vorstellungen, die sich im Prinzip auf der ganzen Welt wiederfinden lassen. Das war auch dem inzwischen verstorbenen Theologen Hans Küng aufgefallen. Er hat sich die einzelnen Religionen angeschaut und versucht einen universellen Wertekanon zusammenzustellen, der sich in allen Religionen wiederfindet und es „Projekt Weltethos genannt.“
Wir Christ:innen haben die Nächstenliebe und Barmherzigkeit nicht für uns gepachtet. Von „christlichen Werten“ zu sprechen ist also erstens dann unbegründet, wenn damit die Überlegenheit zu anderen Weltanschauungen ausgedrückt werden soll. Christ:innen waren und sind in der Geschichte keine besseren Menschen, trotz und wegen christlicher Werte.
Trotzdem könnte man ja fragen, ob es aber in der Bibel bestimmte Vorstellungen gibt, die für unser Handeln richtungsweisend sein soll. Kann man einen christlichen Wertekanon aus der Bibel gewinnen? Auf den ersten Blick scheint das recht attraktiv. Die Bibel ist voll von Anweisungen. Trotzdem lässt sich daraus kaum ein Wertekanon extrahieren, nach dem wir leben sollen. Das widerspräche dem, was die Bibel für Christ:inen ist: Lebendiges Wort Gottes. In der Bibel geht es eben nicht darum einen starren Wertekanon aufzubauen, den Christ:innen zu befolgen haben und dann ist alles gut. Die Bibel erzählt wie Menschen in ihrer jeweils eigenen Geschichte Gott in ihrem Leben erleben; wie sie immer wieder Annahme trotz Schuld, Sinnhaftigkeit trotz Leere und Hoffnung trotz Verzweiflung erleben. In der Bibel ist ein Gott bezeugt, der Beziehung zum Menschen sucht. Es wird von Gott erzählt, vom dem Menschen schon jetzt bewegt sind und diese Welt gestalten wollen. Das ist hochdynamisch. Ein Wertesystem, das den Anspruch hat überzeitlich und allgemein zu definieren, wie ein christliches Leben auszusehen hat, passt da nicht dazu.
Nun könnte man sagen: Ja aber die Liebe! Ist nicht im Doppelgebot der Liebe ein Wert zusammengefasst, aus dem Wir unsere Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen und uns selbst leben sollen? Ja, kein Widerspruch. Aber Liebe ist etwas Dynamisches. Liebe erfüllt uns, lässt uns nach dem Besten für unser Gegenüber suchen, uns mit Menschen in Kontakt kommen. Sie kann auch kribbeln, euphorisch machen und uns auf neue Ideen bringen. Aus dieser Liebe einen Wertekanon ableiten zu wollen, halte ich für unmöglich. Weil das dem Wesen der Liebe widerspricht. Liebe ist individuell, auf den Nächsten ausgerichtet, inkonsequent. Werte sind etwas Definitives, die Liebe nicht. Daraus lässt sich kein Wertesystem machen.
Ich würde also sagen: Wenn man betrachtet, was alles impliziert ist, wenn man von christlichen Werten spricht, sollte man sie lieber nicht so bezeichnen. Noch deutlicher: Nein, ich glaube nicht, dass es christliche Werte gibt, bzw. ich christliche Wert nicht für begründbar halte.
Ich finde aber Widerspruch durchaus wertvoll. Darum kommt darüber gerne ins Gespräch!
Liebe Grüße,
Felix Weise
Neuen Kommentar hinzufügen