Wie werde ich meine religiösen Zwänge los?

Anonym

Liebe Frau Scholl,

ich würde gerne eine Angelegenheit ansprechen, mit der ich schon länger zu tun habe. Es handelt sich um religiöse Zwangsgedanken/Zwangshandlungen.

Bei mir hat das alles Mitte 2019 angefangen. Ich kann gar nicht genau sagen warum, es wurde plötzlich sehr extrem, als ich gerade für eine Abiturprüfung lernte. Zuvor hatte ich ab und an Zwangsgedanken während des Gebetes vorm Schlafen gehen, aber irgendwie konnte ich die schnell wieder abwerfen.

Die Zwangsgedanken handeln dabei von gemeinen Gedanken die ich Gott gegenüber habe bzw. teilweise auch sehr anstoßende Gedanken, welche ich alle niemals freiwillig denken würde! Nach diesen Gedanken habe ich den Drang mich sofort zu entschuldigen. Früher war es so, dass ich der Meinung war, ich müsse unbedingt auf die Knie gehen, um Entschuldigung bitten und zum Schluss das Kreuzzeichen machen. Die Gedanken kamen öfter vorm Schlafen gehen, sodass ich das dann bestimmt auch schon mal öfter als fünf Mal wiederholt habe, da immer mehr Zwangsgedanken dazukamen. Teilweise hatte ich es auch bei meiner alten Arbeitsstelle gemacht, wenn niemand zu sehen war.

Das habe ich mittlerweile abgelegt, heute mache ich dann das Kreuzzeichen. Dies mache ich auch in der Öffentlichkeit, aber unauffällig. Sind die Gedanken doch schlimmer, gehe ich in die Knieposition.

Allein bei den Gedanken ist es im Laufe der Zeit nicht geblieben: in so vielem entwickele ich eine Angst, dass Gott auf mich sauer sein könnte. Ich schaue zum Beispiel sonntags in der Regel einen Online Gottesdienst an. Manchmal fällt es mir von der Qualität her schwer, Worte zu verstehen oder ich bin in dem Moment unkonzentriert und kann nicht ganz nachvollziehen, was gerade gesagt wurde bzw. kann es nicht richtig einordnen in den Kontext, dann spule ich etwas zurück oder wiederhole es öfter, bis ich es richtig verstanden habe. Ebenso verbiete ich es mir, mitten in einem Satz mir etwas anzuhören, sodass ich dann bis zum Satzbeginn zurückspulen muss. Sowas sieht man in einem Video natürlich nicht, es kommt also öfter vor, dass ich dann noch viel weiter zurück spulen muss und mir alles nochmal anhöre. Letzen Sonntag/Montag kam es dann also dazu, dass ich statt ca. 1 Stunde 4 Stunden für den Gottesdienst gebraucht habe. Ich war wirklich verzweifelt und erschöpft, meine Konzentration sank und dadurch wurde das Ganze schwieriger.

Hinzu kommen meine Zwänge beim Bibellesen: auch hier darf ich niemals mitten im Satz anfangen zu lesen, ich muss immer zum Satzbeginn anfangen. Wenn ich dann etwas gerade lese und aus Versehen ein Wort des Satzes davor lese, muss ich diesen Satz auch noch mitlesen. In mir macht sich einfach im Moment die Angst breit, dass ich andernfalls Gott nicht ehren würde. Wenn ich also auch zufällig, zum Beispiel auf Instagram, einen Bibelvers sehe, zwinge ich mich, diesen zu lesen und dabei aufs genauste. Ich google dann auch oft die Definitionen einzelner Wörter, obwohl ich mir diese ungefähr auch so erklären kann. Wenn ich dann eine Definition lese und dann ein neues Wort auftaucht, wozu ich die Definition nicht ganz kenne, google ich diese ebenfalls. Manchmal geht das so weit, dass ich erstmal überlegen muss, um welches Wort es in erster Linie ging.

Seit kurzem habe ich auch den Zwang entwickelt, meinen Körper so gut wie möglich zu bedecken, wenn ich anderen Menschen ein Bild von mir schicke, zum Beispiel auf Snapchat.

Es ist für mich mittlerweile sehr anstrengend geworden und erschwert meine Glaubensausübung im Alltag. Mein Glaube spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben, aber durch diese Zwänge verbinde ich meinen Glauben manchmal unter anderem mit Anstrengung, Stress und Druck. Ich habe einfach so Angst, Gott sauer zu machen, wenn ich meinen Zwängen nicht nachgehe.

Tut mir leid für den langen Text! Eine genaue Frage fällt mir gar nicht ein, aber vielleicht haben Sie ja einen Rat? Oder können meine Situation aus ihrer Sicht einschätzen?

Ich bedanke mich vielmals im Voraus!

LG

Liebe Fragenstellerin, 

 

herzlichen Dank für Ihre Frage. Was Sie beschreiben klingt sehr belastend, so als würde es Ihren gesamten Alltag bestimmen. Unser Glaube und unserer Gottesbeziehung  Ausdruck zu verleihen im alltäglichen Leben, soll doch eigentlich etwas sein, was unser Dasein weitet und und Freiheit spüren lässt. Bei scheint genau das Gegenteil zu geschehen. 

Zunächst mal beeindruckt es mich, wie klar und deutlich Sie beschreiben können, was da in Ihrem Alltag geschieht und was dabei in Ihnen vorgeht. Ich glaube, dass das schon sehr viel ist und Ihnen sehr dabei helfen kann, zu einem neuen Umgang mit den Dingen zu gelangen. 

Prinzipiell ist daran ja auch etwas Richtiges, dass religiöse Handlungen wie das Kreuzzeichen uns im Alltag an unsere Gottesbeziehung erinnern und dieser sichtbaren Ausdruck verleihen. Wenn der Umgang mit diesen Handlungen allerdings derart zwanghaft (Sie haben dieses Wort ha selbst benutzt), wie Sie es beschreiben, dann kommt natürlich eher immer wieder Ihr Schuldempfinden darin zur Darstellung. Wie und wodurch sich da Ihnen derart eingenistet hat, dem wäre sicher mal nachzugehen. 

Ich selbst bin in der Form einer kurzen Antwort natürlich überfordert damit, Ihnen da näher auf den Weg zu helfen. Ich würde Ihnen aber sher dringend ans Herz legen, sich professionelle Begleitung auf Ihrem Weg zu suchen in Gestalt einer Psychotherapeutin oder eines -therapeuten. In Ihrem Fall könnte Jemand gut sein, der oder die einen verhaltenstherapeutischen Schwerpunkt hat. So Jemand kann Ihnen dabei helfen, andere Formen des Umgangs mit den entstehenden Gefühlen im Alltag zu finden, so dass Sie hoffentlich nach und nach von den zwanghaften Handlungen lassen können und nach und nach wieder freie werden. 

Ich wünsche Ihnen auf dem Weg Gottes Segen und viel Kraft!

Katharina Scholl

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