Zerrissenes Gewand? Wirklich?

M. Bast
Zerrissenes Gewand
© Aleksandar Dickov/iStockphoto/Getty Images

Hallo zusammen,

im alten wie im neuen Testament wird von den Protagonisten in starken Gefühlslagen gelegentlich "das Gewand zerrissen" (z.B. Hiob 1,20 Hiobs Trauer / Mt 26, 59-66 Kaiphas' Wut). Ist das metaphorisch gemeint oder haben sich die Menschen zur damaligen Zeit tatsächlich so verhalten?

Viele Grüße M. Bast

Liebe:r M. Bast,

für diese Frage habe ich mir professionelle Hilfe geholt. Vielen dank an Prof. Melanie Köhlmoos für die Antwort!

Frank Muchlinsky

Liebe Frau/Herr Bast,

wir wissen leider nicht genau, ob die Menschen zu biblischen Zeiten sich wirklich die Kleidung zerrissen haben, wenn sie eine schreckliche Nachricht erhielten oder in Trauer waren. Allerdings ist der Begriff so oft belegt und auch in der Umwelt der Bibel so gut bezeugt, dass man durchaus annehmen kann, dass es sich um einen tatsächlichen Vorgang handelt. Möglich ist aber (wie heute noch im Judentum üblich), dass es "nur" ein teilweises oder symbolisches Zerreißen war (etwa einen Ärmel abreißen oder so).

Das Kleiderzerreißen gehört zu den sog. "(Selbst-) Minderungsriten", d.h. angesichts von Tod und Schrecken begibt sich ein Mensch in einen Zwischenzustand zwischen dem "erhöhten" Sein (voll bekleidet, voll gesellschaftsfähig, nach Gender, Status etc. erkennbar) und dem "erniedrigten" Sein (nackt, evtl. verwundet oder entstellt, gesellschaftlich nicht zuzuordnen). Es handelt sich wahrscheinlich um einen Teil einer umfangreicheren ritualisierten Handlung und soll (zusammen mit Wehklage, Fasten, Asche auf dem Kopf etc.) anzeigen, dass sich der Einzelne oder die Gesellschaft in einem Zwischenraum zwischen dem Leben (geordnete Welt) und dem Tod (Ungeordnete Welt) befinden.

Im Grunde handelt es sich um das Gegenteil einer "Investitur": Bei dieser wird ein Mensch schrittweise bekleidet, geschmückt und mit Accessoires ausgestattet, um anzuzeigen, dass er sich auf dem Weg in eine neue Lebensphase befindet (bei Priestern, Königen, aber auch Bräuten). Beim Kleiderzerreißen als Teil der Trauerriten ist es genau umgekehrt.

Hier ist das Standardwerk zum Thema: Claudia Bender, Die Sprache des Textilen. Untersuchungen zu Kleidung und Textilien im Alten Testament, Stuttgart 2008 (BWANT 188)

Melanie Köhlmoos

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