Sehr geehrter Herr Muchlinsky,
ich habe eine Glaubensfrage die mich beschäftigt und ich finde keine passende Antwort. "Du sollst deinen nächsten lieben wie dich selbst." Dieses Gebot ist für mich sehr wichtig und doch gleichzeitig eines der schwierigsten. Es kommt im Alltag immer wieder einmal vor, dass ich andere Menschen als ungerecht, rücksichtslos oder unfreundlich empfinde. Ich verspüre dann eine Abneigung und ablehnende Haltung in mir. Die Menschen dann mit einem Gefühl der Nächstenliebe zu betrachten fällt mir sehr schwer und verunsichert mich. Vielleicht haben Sie eine Antwort, wie ich diesem Konflikt begegnen kann? Vielen Dank vorab für Ihre Antwort.
Mit freundlichen Grüßen, Julian J.
Lieber Julian,
Sie haben vollkommen Recht: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" ist wohl eines der Gebote, die am schwierigsten zu befolgen sind. Wie kann Gott, wie kann Jesus von uns verlangen, dass wir etwas so Positives wie Liebe empfinden sollen – für Menschen, die uns unsympathisch sind, die wir teilweise eher verabscheuen möchten?
Und dann sagt Jesus auch noch, dieses Gebot sei zusammen mit dem, das man Gott lieben solle das wichtigste von allen (Mt 22,34-40).
Ich habe mir in dieser Hinsicht einen Satz zueigen gemacht, den mir mal eine Freundin sagte: "Wir sollen unseren Nächsten lieben, deswegen müssen wir ihn aber nicht mögen." Das finde ich einen sehr entspannenden Gedanken. Das Gebot, meine Mitmenschen zu lieben, bedeutet nicht, dass ich sie sympathisch finde muss. Ich kann mich über sie ärgern und über das, was sie tun. Die Liebe, die Gott von uns fordert, geht über das hinaus, was ich für einen Menschen aktuell empfinde. Mag sein, dass jemand ein echter Unsympath ist, doch kann ich in ihm, wenn ich mich besinne, den Nächsten erblicke, das Mitgeschöpf Gottes. Als solches kann ich ihn lieben wie mich selbst. Auch mit mir selbst bin ich ja nicht immer zufrieden. Auch mich persönlich mag ich nicht immer, dennoch liebe ich mich von Herzen. So stelle ich mir auch Gottes Liebe zu uns Menschen vor: Gott sieht uns an – unser Herz, wie es in der Bibel heißt (1 Sam 16,7). Ich bin sicher, dass, wer in unser Herz sehen kann, nicht nur Angenehmes findet – in keinem Menschen. Aber der Blick selbst ist ein liebender, weil Gott uns Menschen als seine Kinder liebt.
Darum lautet mein Rat: Lassen Sie sich nicht schrecken davon, wenn Ihnen Ihre Mitmenschen ab und an als ungerecht, als fies oder lästig erscheinen. Nächstenliebe muss sich nicht als Gefühl der Sympathie bei Ihnen einstellen. Vielleicht können Sie – nach einiger Zeit – in dem unsympathischen Gegenüber das Geschöpf Gottes erkennen. Damit ist ihm Würde geschenkt, Daseinsberechtigung und noch viel mehr, eben Liebe.
Herzliche Grüße!
Frank Muchlinsky