Liebes Fragen-Team,
im Protestantismus wird der Mensch ja nicht durch Werke, sondern allein durch den von Gott geschenkten Glauben gerecht gesprochen. Wie läuft unter dieser Voraussetzung dann das Jüngste Gericht ab? Werden die Gläubigen einfach freigesprochen, egal was sie getan haben und ob sie das bereuen? Die katholische Kirche kennt ja das Fegefeuer als Ort der Läuterung nach dem Tod, in dem die Menschen gerecht werden und von all dem gesäubert werden, was sie an Bösem getan haben. Der Protestantismus lehnt das Fegefeuer ja ab, gibt es trotzdem einen Läuterungsprozess?
Maria
Liebe Maria,
herzlichen Dank für Deine Frage, die ich äußerst spannend finde. Du fragst ja zurecht, wozu es eigentlich ein Jüngstes Gericht braucht, wenn der Mensch durch Gnade gerechtfertigt ist. Und in der Tat, wenn das Jüngste Gericht einfach bedeuten würde, dass sowieso alle von allem losgesprochen werden, wozu wäre es dann gut?
Ich selbst kann mit diesem Bild eines Jüngsten Gerichts im Christentum viel anfangen. Wenn ich die Welt anschaue, gibt es darin so viel Unrecht und so viel Schmerz, der nie geheilt wird, dass ich sehr darauf hoffe, dass all das, was an Übel geschieht nicht einfach in der Geschichte verschwindet und vergessen wird, sondern eines Tages nochmal eine Stimme bekommt. Das Bild für diese Sehnsucht danach, dass all das eine Stimme bekommt und angesehen wird, ist für mich das Jüngste Gericht.
Dass dieser Gedanke auch für andere Menschen wichtig ist, erlebe ich nicht selten als Seelsorgerin. Vor einiger Zeit hatte ich mit jemandem zu tun, der in der Zeit des Nationalsozialismus sehr in der Hitlerjugend engagiert war und auch sonst die Machenschaften der Nationalsozialisten sehr unterstützt hat. Im Laufe seines Lebens hat er diese Haltung dann selbst korrigiert und hat sehr bereut, dass er sich damals so verhalten hat. Gegen Ende seines Lebens fragte er mich: "Wie wird mir wohl mein Schöpfer gegenüber treten?" Mir ist diese Frage sehr nachgegangen. Für mich zeigt sich darin gar nicht in erster Linie eine Angst vor Gott, der nochmal für all die Verfehlungen des Lebens bestraft. Es zeigt sich mir darin vor allem auch eine Sehnsucht danach, dass auch eigene Verfehlungen nochmal ans Licht kommen. Auch derjenige, der voller Überzeugung an die Rechtfertigung glaubt, lebt ja damit, dass er Dinge getan hat oder an ihnen beteiligt war, die nicht mehr geheilt werden können. Ich glaube sehr, dass deshalb der Gedanke an ein Jüngstes Gericht für Menschen auch heilsam sein kann, also der Glaube daran, dass alles, was nicht geheilt werden kann, nochmal ins Licht gerückt wird.
Theologisch geht es im Jüngsten Gericht gar nicht in erster Linie darum, über den einzelnen Menschen zu entscheiden, sondern die Welt als Ganze ist bei diesem Gericht Thema. Das lässt sich meiner Ansicht nach nur gut verstehen, wenn man das Jüngste Gericht von der Auferstehung her versteht. Diese Welt ist mit einer tiefen Asymmetrie durchzogen, der Ungleichheit zwischen Gott und seiner Schöpfung. Die Auferweckung ist der Akt, in der Gott sich frei entscheidet, diese Ungleichheit aufzuheben. Dem sterblichen Menschen wird ewiges Leben geschenkt. Das Gefälle zwischen Gott und Mensch wird aufgehoben, Gott und Mensch kommen gewissermaßen auf Augenhöhe, könnte man sagen. Die Vorstellung vom Jüngsten Gericht gehört genau in diesen Zusammenhang. In drastischen Bildern wird ausgemalt, wie Gott alles in allem wird. Dieses Alles-In-Allem-Werden hat für uns Menschen zur Folge, dass wir nicht mehr von irgendetwas anderem bestimmt sind als nur von Gott. Das herzustellen, darum geht es theologisch im Bild des Jüngsten Gerichts.
Ich hab Dir jetzt aus ganz verschiedenen Perspektiven versucht, auf Deine Frage zu antworten und hoffe, dass Du mit einer oder sogar mir mehreren Perspektiven vielleicht etwas anfangen kannst, um bei Deinem spannenden Thema einen Schritt weiterzukommen.
Herzlich
Katharina Scholl
P.S. Hier sind noch zwei Links zu anderen Antworten dazu, wie man sich das Jüngste Gericht vorstellen kann: Unter Von dort wird er kommen zu richten? und unter AHA, das passiert beim Jüngsten Gericht beantwortet Frank Muchlinsky die Frage, einmal zum Lesen, einmal zum Hören.