Ein Kollege meines Mannes ist Moslem und stellte mir mehrere Fragen. Auf die ich leider kaum eine Antwort hatte, da ich die Bibel nicht so gut kenne.
Nun zu seinen Fragen
- Christen behaupten, dass Jesus Gott ist. Wo in der Bibel sagte Jesus selbst, dass er Gott ist?
- Hat sich der Glaube, dass Jesus Gott ist erst später entwickelt?
- Wenn Jesus Gott ist, warum wusste Jesus dann nicht, wann der Tag des Jüngsten Gerichts kommt, als er gefragt wurde?
- Warum beten Christen zu Jesus, obwohl Jesus nur allein zu Gott betete?
Liebe Frau Steiner,
Ihre Fragen sind Kernfragen, wenn es um das Gespräch zwischen Christen und Muslimen geht, denn dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde, ist für den Islam absolut unvorstellbar. Ich werde gern versuchen, Ihnen die christliche Vorstellung darzulegen.
Wenn der Kollege Ihres Mannes sagt, Christen "behaupten, dass Jesus Gott ist", wird bereits ein wichtiger Punkt berührt. Das Christentum "behauptet" das nicht, es "bekennt". Das ist eine sehr wichtige Unterscheidung. Es muss nach christlichem Verständnis nicht in der Bibel stehen, dass Jesus sagt: "Ich bin Gott!", damit Christen das glauben können. Die Bibel ist – anders als der Koran – ein Glaubenszeugnis, das nicht direkt von Gott kommt. Gott hat sich – nach christlichem Verständnis in Jesus Christus den Menschen direkt offenbart. Nach islamischem Verständnis hat er das im Koran getan. Die Bibel erzählt von der Offenbarung Gottes, sie ist es nicht selbst. Mit anderen Worten: Das Christentum hat seinen Grund, seinen Ursprung in genau dieser Aussage, dass wir bekennen: "Jesus ist Herr!" Im Neuen Testament gibt es viele Stellen, an denen die ersten Christen genau davon schreiben. Zum Beispiel schreibt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi:
Darum hat ihn (Jesus) auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,9-11)
Die Tatsache, dass Jesus in den Evangelien das nicht von sich selbst sagt, spielt für den christlichen Glauben keine Rolle, denn andere Bibelstellen sagen es über ihn.
Man kann noch anführen, dass Jesus über sich selbst Aussagen macht, in denen er sich selbst als Gottes Sohn bezeichnet. Zum Beispiel im Johannesevangelium in Kapitel 14:
Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. (Joh 14,6-7)
Doch noch einmal: Es kommt nicht darauf an, dass Jesus sich selbst in der Bibel Sohn Gottes nennt. Es kommt darauf an, dass er als Gottes Sohn bekannt wird.
Hinter der Aussage, dass Jesus Gott ist, steht die sogenannte Vorstellung der Trinität Gottes, also das Bekenntnis von dem einen Gott in drei "Personen": Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das ist für Muslime eine Vorstellung, der sie sich um keinen Preis anschließen können, denn es kollidiert mit ihrer Vorstellung von dem einen und einzigen Gott. Für muslimische Ohren klingt die Rede von der Trinität wie die von mehreren Göttern. Doch für den christlichen Glauben ist eben die Vorstellung, dass Gott, der Schöpfer selbst, in Jesus Mensch wurde und weiter durch den Heiligen Geist wirkt, die wichtigste Grundlage. Er ist trotzdem der Eine.
Nun noch zu der Frage nach dem Jüngsten Gericht. In der Tat steht im Matthäus-Evangelium folgender Satz von Jesus: "Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater." (Mt 24,36) Gemeint ist das Datum des Jüngsten Gerichts. Diese Aussage könnte man durchaus dazu verwenden, die Göttlichkeit Jesu infrage zu stellen, denn wenn er Gott ist, warum weiß er es dann nicht? Doch müssen wir auch hier wieder die unterschiedliche Vorstellung davon, was die Bibel ist und was der Koran ist, bedenken. Christen müssen sich der Tatsache stellen, dass die Bibel ein Zeugnis unseres Glaubens ist, nicht aber direkte göttliche Offenbarung. Sie steckt voller Widersprüche, die daraus resultieren, dass sie eben von Menschen verfasst wurde. Dass Jesus das Kommen des Reiches Gottes (und, also auch das Jüngste Gericht) ankündigte, wird in allen Evangelien bezeugt. Aber die Frage danach, wann es so weit wäre, beantwortet Jesus ganz unterschiedlich: In der Apostelgeschichte sagt Jesus zu seinen Jüngern: "Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat." (Apg 1,7)
Das Neue Testament entstand in einer Zeit, in der die Christinnen und Christen das Kommen des Jüngsten Gerichts einerseits dringend erwarteten, andererseits damit leben mussten, dass es auf sich warten ließ. So kam es zu verschiedenen Aussagen dazu, wann es denn endlich so weit sein würde – bis dahin, dass der Autor des Matthäusevangeliums Jesus selbst in den Mund legte, sogar es wisse es nicht. Wichtig war, weiterhin darauf zu warten, darauf zu hoffen.
Vielleicht war dieser Satz von Jesus auch einfach der Versuch von Matthäus, deutlich zu machen, dass Jesus zu Lebzeiten eben "ganz Mensch" war, also nicht ein auf Erden wandelnder Gott, sondern eben Gottes Sohn, ein echter Mensch, der – und damit zu Ihrer letzten Frage – wie alle Menschen auch zu Gott betete.
Nun habe ich viel geschrieben, und ich bin mir sicher, dass all dies für einen muslimischen Menschen nur dann verständlich ist, wenn er sich auf die Denkweise einlässt, die dem christlichen Glauben zugrunde liegt. Vielleicht ist der Kollege Ihres Mannes dazu für ein gegenseitiges Verstehen bereit.
Mit herzlichem Gruß!
Ihr Frank Muchlinsky