Hallo Herr Muchlinsky,
ich zweifele in letzter Zeit sehr am Glauben. Persönlich treibt mich meist die Frage um, warum Gott solch ein Leid auf der Welt zulässt. Darauf haben Sie auch schon hier geantwortet, gehen aber in Ihrer Antwort nur auf durch Menschen erzeugtes Leid ein. Daher meine erste Frage: Wieso geschehen so viele Unglücke, bei denen keine Menschen die Ursache sind wie Erdbeben, Überschwemmungen und Krankheiten. Ich schließe hier ausdrücklich von Menschen verursache Unglücke aus.
Die zweite Frage ist: Wieso lässt Gott die Menschen dadurch leiden? Wieso holt er Menschen, die auf der Erde schreckliches Leid erfahren mussten, nicht zu sich. Grade kleine Kinder können ja ihren Anspruch auf ein "Platz im Paradies" noch nicht verwirkt haben. Und nun aber zu meiner letzten Frage: Wenn ich die Antwort zur oben verlinkten Frage heranziehen darf, dort schreiben Sie, dass der Mensch von Gott frei in seinen Entscheidungen ist. Und dass andere Menschen ggf. unter den frei entschiedenen Taten anderer leiden müssen. Wieso beten wir dann? Entweder Gott greift nicht ein, wie Sie ja geschrieben haben, und dann ist das Beten "nutzlos" oder beten hat einen Sinn, Gott erhört die Gebete und macht etwas. Dann ist die Frage, wann hilft er und wann nicht?
Vielen Dank schon einmal vorab für die Beantwortung meiner drei Fragen.
Beste Grüße,
André
Lieber André,
am Glauben zu zweifeln ist eine sehr natürliche und, ich möchte es wirklich so ausdrücken, es ist eine gute Sache. Es bedeutet, dass man sich damit auseinandersetzt, was man derzeit glaubt. Es bedeutet, dass der eigene Glaube nicht starr wird, sondern sich verändern will. Wer niemals ins Grübeln kommt, wer niemals mit seinem Gottesbild hadert, der wird oberflächlich bleiben. Aus dem Zweifel erwächst hingegen ein reflektierter und tieferer Glaube.
Die Fragen, die Sie stellen, liegen darum auch auf der Hand. Unsere christliche Tradition bringt ein Gottesbild mit sich, das sich einerseits mit dem (allmächtigen) Schöpfergott und anderseits mit dem (erbarmenden) Erlöser beschäftigen muss. Diese beiden Vorstellungen von Gott zusammen anzuschauen, muss dazu führen, dass wir die Widersprüche der beiden Vorstellungen erkennen. Und immer wieder muss man sich die Frage stellen, die Sie ja auch formulieren: Warum lässt Gott die Menschen leiden? Er könnte es doch anders gestalten, wenn er allmächtig ist, und schließlich wird immer wieder gesagt, dass er ein liebender, erbarmender Gott ist. Wieso also tut er es nicht?
Diese Frage haben sich sogar schon Autoren der Bibel gestellt. Das Buch Hiob erzählt eine Geschichte, die sogar noch schlimmer ist, als dass Gott einfach zusieht, wie Schlimmes geschieht. Gott selbst verursacht das Unglück, weil er mit dem Satan eine Wette eingeht, wie fest Hiobs Glaube wohl ist. Der arme Hiob leidet Schlimmstes und klagt Gott an: "Wie kannst Du, Gott, so etwas tun?" Die Antwort, die er bekommt, ist eine sehr merkwürdige. Gott macht Hiob in einer lange Rede klar, dass er selbst so mächtig ist, dass es sich der Vorstellungskraft Hiobs entzieht, warum er wohl was tut. Im Grunde sagt er: "Du kannst mich nicht verstehen." Hiob kann das nur akzeptieren.
Das ist die "Lösung" des Hiobbuches, und es wird auch in anderen Geschichten beschrieben, wie wenig uns Gottes Motive einleuchten. Das gilt nicht nur für das Leid, sondern es gilt auch für Gottes Gerechtigkeit. Jesus erzählt ein Gleichnis zur Gerechtigkeit Gottes, das uns zeigt, wie wenig wir verstehen können, wie gut Gott handelt, weil unsere Idee von Gerechtigkeit einfach anders ist. In Matthäus 20,1-16 steht dieses Gleichnis, bei dem ein Weinbergbesitzer seinen Arbeitern den gleichen Lohn auszahlt, obwohl die einen den ganzen Tag gearbeitet haben, andere aber viel weniger. Das ist natürlich ungerecht in den Augen derer, die den ganzen Tag arbeiteten. Es entspricht eben nicht unserer menschlichen Vorstellung von Gerechtigkeit. Aber der Weinbergbesitzer sagt dazu: "Bist Du sauer, weil ich gütig bin? Kann ich mit dem, was mir gehört, nicht machen, was ich will?" (V.15)
Wie Sie sehen können, ist der Weg, den die Bibel hier nimmt, wieder ähnlich wie bei Hiob: Gott ist anders. Wir können ihn nicht mit unseren Maßstäben messen, und wir können ihn also auch nicht für Unrecht oder Unglück verantwortlich machen, wie wir das mit anderen Menschen tun könnten. Die Ebenen sind einfach nicht dieselben. Diese "Lösung" kann freilich unbefriedigend sein, wenn man sich in diese "Erkenntnis" nicht einfach fügen will. Darum muss, wer damit hadert, weiterdenken, und das will ich an dieser Stelle auch noch tun.
Sie, lieber André, gehen von ein paar Grundsätzen aus, die Sie nicht nennen, die aber mitschwingen: Sie gehen davon aus, dass Gott – wie auch immer – für Erdbeben, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen verantwortlich ist. Sie gehen auch davon aus, dass er das ja so nicht machen müsste. Dann gehen Sie davon aus, dass der Mensch seinen "Platz im Paradies" verwirkt hat, denn kleine Kinder haben – Ihrer Meinung nach – ja eigentlich noch ein Anrecht auf einen Ort ohne Leid. Wenn ich diese Voraussetzungen zusammensetze, kommt dabei ein Gottesbild heraus, das ich so beschreiben möchte: Gott straft die Menschen mit Leid für das, was sie falsch machen. Er ist dabei aber nicht konsequent, denn er lässt auch Unschuldige leiden.
Nach meinem Gottesbild bestraft Gott die Menschen nicht mit Leiden. Er greift nicht ein, in der Tat. Er verhindert nicht, dass wir leiden. Ich erwarte es aber auch nicht von Gott. Ich lebe in einer Welt, in der Freude und Leid dazugehören. Ich glaube, dass dies die Welt ist, die Gott geschaffen und gewollt hat. Dennoch glaube ich nicht, dass er das Leid des Menschen will. Ich glaube, dass Gott das Leid einmal selbst durchlebt hat, indem er Mensch wurde. Und ich glaube darum, dass er das hier zwar nicht aufhebt, uns aber begleitet. Gott hat geblutet, Gott ist sogar gestorben, damit wir nirgendwo allein sein müssen, nicht im Leid, nicht einmal im Tod. Verstehen Sie, was ich meine: Ich setze nicht voraus, dass Gott uns das Leid wegnimmt. Diese Vorstellung muss zwangsläufig scheitern. Ich glaube aber, dass Gott uns nicht allein lässt im Leid, sondern, dass er uns tröstet und auch antreibt, Leid zu überwinden.
Wenn wir uns Gott "nur" als eine Art Weltenlenker vorstellen, der Unwetter heraufbeschwört oder Epidemien oder Erdbeben, dann degradieren wir Gott auf die Stufe eines Wettergottes. Unser Gott hat unser gesamtes Heil im Blick, nicht nur unsere körperliche Unversehrtheit. Der Gott, den das Christentum bezeugt, will an die Seite der Menschen.
Darum ist es alles andere als sinnlos zu beten. Im Gebet können wir diese Nähe Gottes erfahren. Oder wir können ihm klagen, dass wir sie eben nicht spüren. Wir dürfen ihn auch fragen: "Warum, Gott!?" Selbst Jesus tat das in der Stunde seines Todes: "Warum hast du mich verlassen?", soll er geschrien haben.
Ich wünsche Ihnen viele tiefe Gedanken zu diesem Thema. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihrem Weg mit Glauben und Zweifel vorankommen können. Ich wünsche Ihnen, dass Sie offen sein können für neue Gottesbilder und Gotteserfahrungen.
Alles Gute!
Ihr Frank Muchlinsky